Blutspur

Gerd Schumann über den deutschen Kolonialismus

Historiker der Ruhr-Universität Bochum wollen bis 2023 die Tagebücher des Völkermörders Lothar von Trotha veröffentlichen. Der Mann, der 1904 und 1905 das Kommando über die Kolonialtruppen in Deutsch-Südwestafrika führte, hatte den ersten Genozid im 20. Jahrhundert zu verantworten. Er hinterließ fünf in jenen blutigen Jahren verfasste Tagebücher, die Jahrzehnte für die Öffentlichkeit gar nicht und für die Forschung nur bedingt zugänglich waren, weil sie sich in Familienbesitz befanden.

Natürlich fehlt der Name dieses »gewalttechnisch einschlägig erfahrenen Generalleutnants« im neuen Buch von Gerd Schumann (Jahrgang 1951) nicht. Trotha hatte den Oberbefehl über die deutsche Kolonialarmee in Südwestafrika vom Gouverneur Theodor Leutwein übernommen, dessen Strategie bei der kaiserlichen Reichsregierung in Verruf geraten war. »Sie galt als zu zaghaft.« Leutwein, so Schumann, hatte gewarnt, dass die unterworfenen Herero noch als Viehzüchter und Arbeiter gebraucht würden und sich Zehntausende Menschen »nicht so leicht vernichten« ließen, was diesem in Berlin als Schwäche ausgelegt worden war.

Man kreidete ihm zudem an, mit dem Herero-Chef korrespondiert zu haben. »Trotha dagegen hatte sich bereits in der Vergangenheit von nichts abhalten lassen.« Er verdiente sich bereits als 18-Jähriger im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 fragwürdige Meriten durch Kaltblütigkeit, war danach führend beteiligt an der Niederschlagung der Wahehe-Erhebung in Ostafrika 1894/96 und wurde 1900 zur Bekämpfung des Boxeraufstands ins chinesische Kiautschou entsandt. »Auf ihn war Verlass. Er würde gnadenlos gegen die Aufständischen vorgehen«, interpretiert Schumann die seinerzeitigen Entscheidungen in Berlin. Um sodann Trothas brutales Vorgehen in Südwestafrika zu schildern:

»Im August 1904, nach sieben Monaten Krieg, müssen sich die vereinigten Clans der Herero angesichts ihrer prekären Lage bis auf das Hochplateau des Waterberges im Nordosten zurückziehen. Insgesamt bis zu 80 000 Menschen mit Viehherden bilden ein riesengroßes Lager, das kaum zu verteidigen ist ... Die ›Schlacht von Ohamakari‹, wie die Herero die Kämpfe am Waterberg nennen, beginnt am Morgen des 11. August 1904. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des grauenvollen deutschen Artillerieeinsatzes, der ungezählte Opfer unter Männern, Frauen und Kindern fordert und die Viehherde dahinrafft, befiehlt Samuel Maharero (Häuptling der Herero) den Ausbruch nach Südosten, das einzig noch offene Schlupfloch aus der tödlichen Einkesselung. Die Flucht gelingt, Kapitulationsangebote waren von den Deutschen abgelehnt worden, die Herero stellten militärisch keine Bedrohung mehr dar, hieß es. Trotha lässt nunmehr die Omaheke-Salzwüste abriegeln und unterbindet die Wasserversorgung. Die Fliehenden gehen in dem öden, sandigen Teil der Kalahari einem fürchterlichen Schicksal entgegen.«

In den Debatten um das Humboldt-Forum in Berlin und das aus deutscher Kolonialzeit stammende Beutegut ist dieses blutige Kapitel deutscher Geschichte wieder verstärkt in die Öffentlichkeit geraten. In der DDR gab es, im Gegensatz zur Bundesrepublik, schon frühzeitig eigene Lehrstühle und akademische Einrichtungen zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands, im Zuge der Vereinigung fatalerweise abgewickelt. Nicht zufällig sah man gerade auch auf dem sogenannten schwarzen Kontinent 1989/90 dem bevorstehenden Ende der DDR mit bangen Erwartungen entgegen, verknüpft mit der Furcht vor einer möglichen Rekolonialisierung, wie Schumann nach eigenen Beobachtungen vor Ort feststellte, die der erfahrene Reporter hier plastisch und atmosphärisch dicht reflektiert.

Nunmehr hat er im Kölner Verlag PapyRossa eine sorgfältig recherchierte, faktenfundierte Anklage der Verbrechen des deutschen Kolonialismus vorgelegt - von »einem Spätstarter, der früh scheiterte«, aber heute noch in nicht minder schlimmer Erinnerung bei den betroffenen Völkern ist als dessen französisches oder britisches Pendant. Ab 1884 fasste das Wilhelminische Kaiserreich Fuß in Afrika, Nordostchina und im Pazifik. Seine Blutspur zieht sich von Namibia und Kiautschou, Kamerun und Tansania bis Samoa und Neuguinea. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ging Deutschland seiner Kolonien verlustig. »Doch gab es ein Davor und ein Danach.« Es ist ein Verdienst des hier angezeigten Buches, diese auszugraben und publik zu machen. Kenntnis darüber ist umso wichtiger, als Bundeswehrsoldaten wieder in Ländern des Süden agieren. Und noch immer nicht alle Namen von Kolonialideologen und Rassisten von Straßenschildern in Deutschland getilgt sind. Was Schumanns Fazit rechtfertigt: »Die koloniale Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.«

Im ersten Kapitel unternimmt der Autor eine historische Einordnung des deutschen Kolonialismus, der häufig als »zu vernachlässigende Episode« verharmlost wird und hinter den Menschheitsverbrechen des Faschismus zu verschwinden droht. Doch: Die Zwangsinstrumente, die der deutsche Militarismus in zwei Weltkriegen und explizit der Faschismus einsetzte, sind zuerst in den Kolonien exerziert und erprobt worden.

Es folgt eine Definition von Kolonialismus, wobei Schumann gegenüber der ziemlich allgemeinen im westdeutschen Duden jene in »Meyers Universallexikon« der DDR vorzieht, die den Kolonialismus als »Gesamtheit der Politik kapitalistischer bzw. imperialistischer Staaten zur (vorwiegend unverhüllten und brutalen) Unterdrückung und Ausbeutung abhängiger Völker« ausmachte. Der Autor zitiert unter anderem den ehemaligen Präsidenten Boliviens, Evo Morales, der Kolonialismus und Imperialismus als politische und ideologische Zwillinge ansah, als »zwei Seiten einer Medaille«. Mit Sebastian Conrad, Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin, lehnt Schumann eine Begrenzung des Begriffs Kolonialismus auf territoriale Eroberungen als zu begrenzt ab. Skeptisch steht er dem heute weithin gängigen Begriff »Postkolonialismus« gegenüber, weil er »eine Tendenz zum Verschwinden des Kolonialismus zumindest unterstellt, wenn nicht gar dessen vollzogenes Ende«. Das Gegenteil ist der Fall, wie etwa das Afghanistan-»Abenteuer« der Bundesrepublik bezeugte, dessen eigentliche, wirtschaftlichen Hintergründe auszuplaudern Bundespräsident Horst Köhler sein Amt gekostet hatte. Koloniale Kontinuitäten sind weltweit offensichtlich.

Man ist dann allerdings überrascht, in Schumanns Buch ein Kapitel über die Germanen und Nordmänner zu finden. Jedoch mussten diese Ahnen tatsächlich herhalten zur Legitimation des deutschen Kolonialismus, der mythisch unterfütterten Behauptung eines natürlichen, ethnisch begründeten Expansionsstrebens der arischen (Herren)Rasse. »Der wundersame ›Wandertrieb‹ germanischer Stämme sowie die aus ihm abgeleitete Eroberung fremder Territorien werden als kulturmissionarische Tat abstrahiert«, schreibt Schumann.

Die Anfänge des »deutschen Kolonialismus« - vom Autor da noch in Anführungszeichen gesetzt (»wenn er für diese Zeit als solcher bezeichnet werden kann«) - gehen zurück bis ins Zeitalter der großen geografischen Entdeckungen und korrespondierten mit jenen der anderen, damals noch mächtigeren europäischen Staaten Spanien, Portugal, England, Frankreich und Niederlande. Sie äußerten sich in Expeditionen, Handelsreisen und schieren Raubzügen - personifiziert in Gestalt von Kaufleuten, Forschern, Entdeckern, Missionaren, Abenteurern und Söldnern, die sich bereits an der Unterwerfung überseeischer Gebiete beteiligten, bevor dann die systematisch-territorialen militärischen Eroberungen starteten.

Zu den ersten umtriebigen Kolonialpionieren gehörten die Augsburger Kaufmannsfamilien der Welser und Fugger. Im 17. Jahrhundert ließen sich dann staatsoffiziell Preußens Adler an Afrikas Küsten nieder. Verantwortlich für die - für einen deutschen Regenten damals noch ungewöhnlichen - kolonialen Ambitionen des Brandenburger Kurfürsten Friedrich Wilhelm seien sein Aufenthalt und das Studium in den Niederlanden gewesen, meint Schumann. Dessen Potentaten-Credo lautete: »Seefahrt und Handlung sind die fürnehmsten Säulen eines Estats, wodurch die Unterthanen beides zu Wasser, als auch durch die Manufakturen zu Lande ihre Nahrung und Unterhalt erlangen.«

Von diesem Edikt war es dann nicht mehr allzu weit bis zur »Hunnenrede« des preußisch-deutschen Kaisers Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven anlässlich der Verabschiedung des Ostasiatischen »Expeditionskorps« zur Niederschlagung des sich gegen ausländische imperiale Interventen richtenden Boxeraufstandes in China.

Ein Buch, dessen Lektüre nicht nur historisch Interessierten empfohlen sei.

Gerd Schumann: Kaiserstraße. Der deutsche Kolonialismus und seine Geschichte. Papyrossa, 239 S., br., 16,90 €.

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