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Gebirge, wir hören dich!
Das Klirren der Splitter: Esther Kinskys fantastischer Roman »Rombo« über ein Erdbeben von 1976 ist ein Buch, das die Zeiten überdauern wird
Nur sehr wenige Schriftsteller*innen können für sich das Privileg beanspruchen, die große Schönheit gefunden zu haben. Esther Kinsky gehört ganz gewiss zu ihnen. Spätestens seit »Hain« (2018), ihrem gefeierten »Geländeroman«, hat sie dieses Geheimnis gelüftet und uns Zauber und Charakter italienischer Landschaften vermittelt. Mit ihrem neuen Roman »Rombo« setzt sie ihre literarische Vermessung der floralen und ariden Gegenden fort - mit Eleganz und impressionistischer Gebärde!
Dabei ist das Thema ihres neuen Werkes alles andere als erfreulich. Es beginnt mit einer Katastrophe: zwei Erdbeben in Nordostitalien, die das Friaul 1976 nachhaltig verändern und zahlreiche Menschen ins Unglück stürzen. Die 1956 in Engelskirchen geborene Esther Kinsky beschreibt das mit zwei Stimmen: Auf der einen Seite sprechen die Menschen, auf der anderen die Natur.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Menschen sind den Bedingungen der Umwelt ausgeliefert. Die tektonischen Verschiebungen teilten das Leben in Norditalien in ein Davor und ein Danach. Die Bewohner kümmerten sich um die Ziegen, pflegten Tanz- und Trachtenkult, erklärten die Vorgänge in der Welt noch mit archaischen Mythen. Selbst Erdbeben fanden in den Fabeln ihren Raum, resultieren sie denen zufolge doch aus den Bewegungen eines unter Wasser ruhenden mythischen Wesens. Und hatte nicht eine überfahrene, seit dem Sündenfall das Übel verkörpernde Schlange das Unglück und den Verlust des Paradieses in »Rombo« vorweggenommen?
Allein schon diese Art und Weise, mit der Kinsky die Schlichtheit des Friauls, eine karge Gebirgsregion, mit all ihrer Faszinationskraft einfängt, mutet beeindruckend an. Noch mehr funkelt und leuchtet »Rombo« allerdings in jenen Passagen, in denen die Landschaft zur Erzählung, ja selbst zum Protagonisten avanciert. Seien es die rauen Wege, die das abschüssige Geröll nimmt, sei es der Wildwuchs der Vegetation oder der geradezu freigeistige Verlauf der Flüsse - Kinskys Nature Writing lässt die Szenerie in Sprache übergehen und umgekehrt.
Die Falten in den Gebirgen, mithin all die Schluchten und Risse im Gestein, gleichen den Seiten eines Buches. Formationen im Gebiet werden zu Buchstaben: »Im blassen schattenlosen Licht, wenn die Sonne hinter dünnen Wolken steht, lassen sich die bloßliegenden Kalkfelder und die weißlichen Felsnarben, die sich durch die schütter begrünten Flächen ziehen, vom Tal aus lesen wie eine Schrift.«
Was diese Schrift birgt, das geht nicht verloren. Sie manifestiert Gedächtnis, konserviert, was durch den Wandel der Zeit und nicht zuletzt durch das Erdbeben physisch ausgelöscht oder umgestaltet wurde. Hier und da macht sich noch ein »Seufzen der Materie« bemerkbar, als wären Kiesel und Gräser Personen, vor allem aber folgt das erzählende Ich den Hinterlassenschaften. »Es heißt, der Felsrutsch habe Tiere und Schäfer erschlagen, eine Hütte unter sich begraben. Solche Geschichten und Gerüchte säumen die Staatsstraße seit den seismischen Erschütterungen und liegen über den Spuren wie Kriechpflanzen aus bloßem Gewisper.«
Immer wieder flicht Kinsky in ihre dem Naturereignis angemessene fragmentarische Erzählung, bestehend aus notizartigen Miniaturen zu Pflanzen, Wegabschnitten und biografischen Rückblicken verschiedener Figuren, Metaphern über das Erinnern ein. Wir werden seiner als Scherbenhaufen oder als Ergebnis sich dem Areal einschreibender Gewässerlinien gewahr. Fixiert wird alles in Lautmalereien, Wortneuschöpfungen und einem Fundus an Bildern und Klängen. Man hört »gurlende[s] Schnurren« und das »Klirren der Splitter«. Indem Kinsky all diese Töne und fotografischen Details festhält, betreibt sie so etwas wie einen poetischen Naturschutz; sie erhält das Leben, indem sie es ins Silben und Sätze bannt.
In jeder Formulierung vernimmt man derweil weniger die Romanschriftstellerin als die Lyrikerin, weniger die Konstrukteurin eines Plots als vielmehr die Sprachkomponistin, die mit Soundfarben und Synästhesien arbeitet.
Jenseits der zumindest imaginären Rettung eines einzigartigen Gebirgszuges und Tals, jenseits des fast schon geologischen Erforschens von zahlreichen, sich über Jahrtausende entwickelnden Schichten im Gestein und der Erde entsteht dabei allen voran Musik. Sie ähnelt den Fiedelliedern der einst im Friaul ansässigen Menschen, »ist weder traurig noch fröhlich […], sie schleift und schrammelt am Leben mit einem immer gleichen Rhythmus und kleinen Abänderungen der Melodie«. Gleich einem Reigen versetzen uns diese »Fiedellieder« sukzessive in eine Meditation. Das Mantra lehrt: »Immer weiter muss es gehen, und dazu getanzt muss werden«, eben wie eine »Übung für die Unendlichkeit«.
So entwickelte sich eine Tiefe, ohne die Weitung des Raums aufzugeben. Mehr noch: Der Text lässt einen durchaus an ein Fotoalbum denken, in dem Esther Kinsky Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdichtet. Denn im Abseits der allgegenwärtigen, übermächtigen Tragödie reflektieren so manche Überlebenden über die unverhofften Folgen der Zäsur. Vereinzelt deutet sich gar »der Anfang von einem neuen Leben an«. Nichts bleibt also, wie es war oder ist. Alles Dasein hält sich in unabsehbarer Evolution. Nur dieses Buch, »Rombo«, es dürfte den Sog der Vergänglichkeit überdauern.
Esther Kinsky: Rombo. Suhrkamp. 267 S., geb., 24 €.
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