Zweifel an der Einzeltäterthese

Verdächtiger Polizist mit rechter Gesinnung gerät im Verfahren »NSU 2.0« aus der Schusslinie

  • Joachim F. Tornau, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn Alexander M. sich auf der Anklagebank zu Wort meldet, lautstark zumeist, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Erst in der vergangenen Woche war der Mann, den die Staatsanwaltschaft für die rechte Drohschreibenserie des »NSU 2.0« verantwortlich macht, den Journalisten Deniz Yücel rüde angegangen – in einem Ton, der sehr an die hasstriefenden Mails erinnerte, die der Angeklagte nie verschickt haben will. Als »Mistmade« und »Stück Scheiße« beleidigte der 54-jährige Berliner den Zeugen und drohte unverhohlen: »Wenn ich könnte, würde ich ganz andere Dinge mit dir machen!«

Am Montag aber war der arbeitslose Computerexperte zur Abwechslung mal einverstanden: »So, wie der Zeuge Böhmermann das geschildert hat, so war es auch wirklich gewesen«, sagte er im Berliner Dialekt. »Es war so, als ob er dabei gewesen wäre.« Der »Zeuge Böhmermann« war der Fernsehsatiriker Jan Böhmermann, Moderator des »ZDF Magazin Royale« und eine der vielen Personen des öffentlichen Lebens, die vom »NSU 2.0« mit Hass und Hetze überzogen worden waren. »Das war jetzt nichts, was mich sonderlich vom Hocker gehauen hätte«, sagte Böhmermann. »Ich will nicht einen auf cool machen. Aber so etwas gehört zu meinem Job dazu.«

Doch nicht diese Abgeklärtheit gefiel dem Angeklagten so gut, sondern der Vortrag über rechte Bedrohungsnetzwerke, zu dem Böhmermann ungefragt ausholte. »Bei aller Liebe«, sagte der Moderator, »das ist doch kein einzelner Mensch, der das macht.« Das Muster, dem auch der »NSU 2.0« gefolgt sei, kenne er schon seit vielen Jahren: Schreiben voller rechter »Buzzwords«, also Schlagwörter, gerne garniert mit einem Hitlergruß und geschickt an große Verteiler, um nicht nur einen einzelnen Menschen zu verunsichern, sondern möglichst viel Öffentlichkeit zu erreichen. »Je mehr buzz, desto besser«, sagte Böhmermann. »Ein fantastisches Verbrechen, um mit kleinem Aufwand Destabilisierung zu erreichen.«

Die Hassnachrichten, die er vom »Staatsstreichorchester« bekommen habe, seien in Diktion und Formulierungen kaum anders als die des »NSU 2.0«. »Ich bin kein Online-Graphologe, aber das sieht sehr ähnlich aus«, sagte der 41-Jährige und verwies auf das rechte Netzwerk »Reconquista Germanica«, das mit zeitweilig mehreren tausend Mitgliedern Daten ihnen unliebsamer Personen sammelte und über Chatgruppen Online-Attacken koordinierte. »Ein mächtiges Instrument.« Das »ZDF Magazin Royale« hatte dem 2018 die Gegenkampagne »Reconquista Internet« entgegengesetzt.

Es sei sehr mühsam, die Ermittlungsbehörden auf solche rechten Strategien aufmerksam zu machen, beklagte Böhmermann. Statt nach Strukturen sei mit großem Aufwand nach einem Einzeltäter gesucht worden. »Die analytischen Fähigkeiten sind rudimentär.« Der Angeklagte hatte zu Prozessbeginn recht vage von einer Chatgruppe gesprochen, in der die Serie von 116 Drohschreiben geplant worden sei, aber jegliche eigene Schuld bestritten. Jetzt fühlte er sich offenbar bestätigt.

Von einseitigen Ermittlungen möchte die Staatsanwaltschaft indes nichts wissen. »Der Vorwurf wird mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen«, sagte Staatsanwältin Patricia Neudeck – nicht als Reaktion auf die Aussage des prominenten Zeugen allerdings, sondern wegen eines Beweisantrags der Nebenklage, über den das Gericht noch nicht entschieden hat. Es geht um die Frage, ob das Drohfax an die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız, mit dem die Serie des »NSU 2.0« im August 2018 begann, statt vom Angeklagten nicht doch von dem Frankfurter Polizeibeamten Johannes S. verschickt wurde.
Eine Flut von Indizien hatte Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens dafür zusammengetragen, bis hin zu einem mutmaßlich gefälschten Alibi des Beamten. Staatsanwältin Neudeck aber befand nun: Das könne in diesem Verfahren keine Berücksichtigung finden. Und ein leitender Ermittler teilte dazu als Zeuge lapidar mit: Zwar sei »offensichtlich«, dass der fragliche Polizeikollege eine rechte Gesinnung habe. Ein Tatverdacht, was das Drohfax angeht, habe jedoch nicht erhärtet werden können.

Jan Böhmermann war an diesem neunten Verhandlungstag nicht der einzige Zeuge aus der Welt des Fernsehens. Auch seine ZDF-Kollegin Maybrit Illner berichtete über Drohmails des »NSU 2.0« – eine habe sie sogar zweimal kurz hintereinander bekommen, weil der Schreiber beim ersten Versuch »Der Führer« falsch geschrieben habe. Allzu besorgt sei sie nicht gewesen, sagte Illner, rechte Beleidigungen und Bedrohungen waren auch für sie nichts Neues. Nur: »Nicht so widerlich formuliert.«

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