- Kultur
- »Auferstehung« am Deutschen Theater Berlin
Abkehr von dieser Welt
Armin Petras inszeniert am Deutschen Theater in Berlin Tolstois »Auferstehung«
Vor dem Vorhang das, was sie Gerichtsverhandlung nennen: dilettantisch, uninteressiert, zynisch, eine Farce. Man hat schlecht geschlafen, Kopfschmerzen vielleicht und dann noch komplizierte Wahrheitserkundungen? Das sollte man abkürzen; unstrittig ist doch, dass wir immer ein gleichbleibendes Quantum an Schuldigen brauchen, um uns wohl in der eigenen bigotten Haut zu fühlen. In dem Maße, wie ich andere schuldig spreche, beweise ich meine eigene Unschuld.
So stehen sie da vorn und wären lieber schon wieder fort, die Geschworenen, der Richter und der Staatsanwalt - Verteidiger und Zeugen braucht es eigentlich nicht. Das Urteil steht bereits fest. Jekaterina Maslowa ist doch eine Prostituierte und der reiche Kaufmann, ihr letzter Kunde, ist tot, vergiftet. Und sie gibt zu, ihm ein Pulver in den Kognak getan zu haben, das ihr jemand in die Hand drückte. Schlafpulver, so dachte sie, wollte endlich ihre Ruhe haben, sagt sie.
Jekaterina Maslowa ist schuldig, aber in einem anderen Sinne, als die Anklage lautet. Tolstoi wusste es: Die da in Selbstüberhebung über andere zu Gericht sitzen, sind selbst die Schuldigen. Dieses Gericht ist das Verbrechen.
Aber wo, so fragt Armin Petras in seiner Adaption von »Auferstehung«, in der viel von seinen eigenen frühen Stücken und Inszenierungen am Maxim-Gorki-Theater wiederaufersteht, ist eigentlich unser Sibirien? Jener Nicht-Ort, wo alle die verschwinden, denen die Gesellschaft den Stempel »schuldig« aufdrückt und die dann für lange - und manche für immer - von der Bildfläche verschwinden? Petras selbst hat es im vergangenen Jahr erlebt, als er in einigen Medien plötzlich als »Rassist« bezeichnet wurde. Eine absurde Verdächtigung. Aber eine die Existenz bedrohende. Verdacht ist bereits das Urteil? In hysterischen Zeiten schon.
Das ist nur einer der aktuellen Bezüge zum Auferstehungsthema. Denn Jekaterina Maslowa hat keine vorsätzlich verbrecherische Tat begangen und sich doch schuldig gemacht, weil sie ein falsches Leben führte, das sie bis an diesen fatalen Punkt gebracht hat, an dem nun korrupte Zyniker und moralisch degenerierte Karrieristen über sie zu Gericht sitzen - und sie nach Sibirien schicken. Oder wie es das Bauernvolk hier sagt: »Es scheint wahr zu sein, dass die Wahrheit von der Sau gefressen wird.«
Den Roman, der 1899 erscheint, hat Tolstoi mehrfach umgearbeitet. Von dem Juristen und Schriftsteller A. E. Koni hört er die Geschichte eines armen Mädchens ohne Eltern, das bei einer Gutsbesitzerfamilie aufwächst, halb Haustochter, halb Dienstmädchen. Sie wird von einem jungen Adligen auf Besuch verführt oder sogar vergewaltigt. Dieser gibt ihr hundert Rubel und verschwindet. Dies aber ist die erste große Summe ihres Lebens: Die hat sie mit ihrem Körper verdient. Dafür müsste sie mehr als ein Jahr lang Wäsche waschen. Gemessen an diesem leichten Geld kommt ihr das kümmerliche Dasein als Dienstmädchen wie weggeworfenes Leben vor.
Dann erlebt sie, dass Männer sie umstandslos sexuell benutzten, ohne ihr etwas zu bezahlen. Also warum nicht es gleich zum Beruf machen, mit festen Preisen? Doch nun wird sie des Mordes und Diebstahls beschuldigt - und wie nebenher schuldig gesprochen. »Das ist doch so eine!«, heißt es nun bloß. Jedoch ist unter den Geschworenen zufällig jener adlige Verführer (Vorbild von Dimitri Nechljudow im Roman), der sich nun plötzlich schuldig am Schicksal des Mädchens fühlt und sie heiraten will, um so vor allem seine eigene Seele zu retten.
Tolstoi schreibt diesen Roman, und als er fertig ist, gefällt er ihm so nicht mehr. Nicht die Seelenqual des Adligen müsste im Zentrum stehen, sondern die Auferstehung, die Menschwerdung der Jekaterina Maslowa. Denn diese lässt auf der beschwerlichen Fahrt in die Verbannung die Auffassung zurück, dass man die Triebhaftigkeit von Männern finanziell für sich ausnutzen sollte. Auch unter dem Einfluss der politischen Gefangenen, die von Revolution sprechen.
Tolstoi schreibt nun ein Romanende, in dem er Jekaterina Maslowa und Nechljudow heiraten und gemeinsam für die Befreiung der Bauern arbeiten lässt. Aber das kam ihm dann auch wieder verlogen vor und er entschied sich für einen offenen Schluss. Oder wie es Tschechow formulierte: Tolstoi habe für alle Schriftsteller gearbeitet. Das gilt bis hin zu Gorki - und nun auch für Armin Petras.
Mit Regine Zimmermann und Andreas Leupold hat er bewährte Schauspieler auf der Bühne des Deutschen Theaters, die ihm seit fast zwanzig Jahren verbunden sind. Doch so energievoll in wechselnden Rollen sah man beide lange nicht. Auch Anja Schneider war unter Petras’ Intendanz bereits am Gorki Theater, spielte dort Effi Briest, ein bürgerliches Frauenschicksal. Und Katrin Wichmann verkörpert, wie ihre Mitspieler auch, viele Figuren, aber bleibt doch in ihrer etwas schwerblütigen Art unverkennbar. Auch sie trägt diesen Petras-Abend, der etwas von Passions-Spiel an sich hat.
»Auferstehung« ist in jeder Hinsicht ein Krisenbuch und nun auch ein Krisenstück, dessen Aufführung zur bildstarken optimistischen Tragödie gerät. Man kann sich retten indem man alles zurücklässt, was ans falsche Leben bindet. Kann man sich retten? Die Armutsbewegung, das sogenannte Tolstojanertum, von dem Gottfried Benn höhnte, Tolstoi habe Freude daran gefunden, sich nicht mehr zu waschen und vor Unsauberkeit zu stinken, war in den 1890er Jahren bereits ein soziales Auslaufmodell. Sein moralischer Rigorismus erschreckte mehr als er Anhänger fand. Als Jugendlicher las ich schockiert in einer Tolstoi-Erzählung von einem Mann, der kurz davor ist, sein selbst auferlegtes Keuschheitsgelübde zu brechen und sich einen Finger abhackt. Wogegen alles hilft Schmerz?
Graf Tolstoi hatte sich zudem seine Familie zum Feind gemacht, flüchtete kurz vor seinem Tod vor seiner Frau, die verhindern wollte, dass er seinen Besitz dem russischen Volke vermache. Nicht leicht für einen alten Mann, sich nach und nach so unverstanden und verlassen zu sehen. Auf seiner Flucht starb er an einer Bahnstation. Und das mutet dann wie ein weiteres ungeschriebenes Sibirien-Kapitel seines Auferstehungs-Romans an.
Petras erzählt seine Auferstehungs-Reise gewohnt vielstimmig, geradezu multimedial. Etwas Spiel im Stegreif, etwas Comic, etwas Soap, etwas Moritat, etwas opera buffa - alle Mittel sind recht, auch und gerade die einfachen, um die unspektakuläre aber tiefgreifende Wandlung eines Menschen zu zeigen.
Anja Schneiders Maslowa verzichtet auf jede Form von Hurenfolklore, sie ist ein einfacher Mensch, meinte zu wissen, wie die Welt funktioniert: kaufen und verkaufen. Also auch ich. Das ungerechte Urteil bestärkt sie eher noch darin. Und am Ende ist sie immer noch derselbe einfache Mensch, nur etwas wissender. Denn die Nähe zu Menschen mit Idealen, zu politischen Gefangenen, die die Obrigkeit ebenfalls nach Sibirien auslagert, lässt sie die Welt (und sich selbst) nach und nach anders sehen. Ein neuer Mensch wird sie dadurch nicht, Erweckung findet nicht statt, aber Korrektur durch gewonnene Einsicht. In dieser stillen Eindringlichkeit, dem Freilegen verschütteten Menschseins, überzeugt Anja Schneider.
Ebenfalls ein Unerlöster, aber auch ein Mitwissender: Nechljudow, den der starke Felix Goeser ein paralleles Martyrium durchleiden lässt. Denn seine Reise nach Sibirien, folgt nur der inneren Not. Von dieser Welt hat er sich abgekehrt.
Nächste Vorstellungen: 3., 7., 9. und 20.4.
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