Von Rapallo in den Kaukasus

Stefan Creuzberger beschreibt das 20. Jahrhundert als eine deutsch-russische Geschichte

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 5 Min.

»It’s the economy, stupid.« Dieser Slogan stimmt nur in rational handelnden Gesellschaften. Autokraten, Diktatoren handeln anders, weil sie die Vernunft ausschalten. Ein Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen im »langen 20. Jahrhundert« belegt das. Diesen Blick wirft mit kritischer Urteilskraft der 1961 geborene Rostocker Professor für Zeitgeschichte Stefan Creuzberger in seinem überwältigend faktenreichen und hochaktuellen Buch »Das deutsch-russische Jahrhundert«. Es ist vor dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine abgeschlossen worden, sieht diesen aber schon fast ante portas. Solche grundsätzlichen Geschichtsschreibungen können nur auf der Basis früherer Forschungen und Darstellungen gelingen, die ihrerseits auf Quellenstudien beruhen. Creuzberger schöpft aus der profunden Kenntnis des vorliegenden historiografischen Materials und schreibt fesselnd über die aktuellen Entwicklungen als miterlebender Zeitzeuge.

Das Buch ist nach drei Analysekriterien gegliedert: Revolution und Umbruch, Terror und Gewalt sowie Abgrenzung und Verständigung. Im Innern folgen diese Hauptteile der Chronologie, die aber nicht gleitend, sondern an markanten Daten festgemacht wird. Diese unkonventionelle Darstellung vermeidet Wiederholungen und erhellt die in den Mittelpunkt der Kapitel gestellten besonderen Wirklichkeiten.

Das im 19. Jahrhundert gewachsene deutsch-russische Verhältnis, durch dynastische Verwandtschaften gefestigt, hätte eigentlich den Ersten Weltkrieg undenkbar erscheinen lassen müssen. Zumal an dessen Vorabend, im Jahr 1913, das Zarenreich aus dem Deutschen Kaiserreich 47,6 Prozent seiner Gesamteinfuhren bezog, wie der Autor mitteilt. Deutschland bezog im Gegenzug 44,3 Prozent der gesamten russischen Warenexporte. Trotz dieser einmaligen Wirtschaftsverflechtung beteiligten sich beide Länder am ersten industriellen Völkerschlachten. In diesem setzten - und das ist kaum bekannt - die deutschen Truppen an der Ostfront erstmalig Giftgas ein, in der Schlacht von Bolimów in Polen am 31. Januar 1915. Dabei »handelt es sich um einen eklatanten Tabubruch, der letzte Formen ritterlicher Kriegführung außer Kraft setzte … Schätzungen zufolge hatten die zaristischen Armeen mit rund einer halben Million Mann die meisten Gaskriegsopfer des Ersten Weltkriegs zu beklagen.«

Dieser Krieg endete für die beiden Länder mit dem deutschen Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918, den so ungleiche Personen, wie kaiserliche deutsche Diplomaten und Militärs mit Revolutionären der jungen Sowjetmacht schlossen. Der zwischen dem deutschen Kaiserreich und den westlichen Kriegsgegnern ein Jahr später geschlossene Friedensvertrag von Versailles brachte den Umsturz in Deutschland. Die Weimarer Republik blieb daraufhin lange Zeit ebenso isoliert wie die junge Sowjetunion. Creuzberger lenkt den Blick auf die widersprüchliche Haltung der beiden »Paria«-Länder zueinander: Einerseits versuchte die junge Sowjetmacht kommunistische Aufstände in Deutschland zu unterstützen, andererseits umging Deutschland die Versailler Restriktionen der Reichswehr durch streng geheime Waffenentwicklungen (Panzer und Flugzeuge) im kommunistischen Russland. Im Vertrag von Rapallo 1922 wurde eine von den Westmächten beargwöhnte »Partnerschaft« zwischen beiden devisenschwachen Ländern besiegelt, deren Handel daraufhin florierte. Auch die über 300 000 russischen Revolutionsflüchtlinge in Berlin gehörten zu dieser »besonderen Beziehung«.

Der Aufstieg Hitlers wurde in Moskau lange Zeit, selbst noch nach dessen Machtantritt in Deutschland 1933, wenig beachtet. Mehr als eine Randerscheinung war der nahezu gleichzeitige Austritt Nazideutschlands aus dem Völkerbund mit dem Eintritt der UdSSR in diesen. Die Sowjetunion verließ damit ihre Isolation in die sich Deutschland begab.

Ein weiterer Meilenstein dieser besonderen Beziehungen war der Pakt zwischen den beiden ideologisch so gegensätzlichen Diktaturen, den am Vorabend des deutschen Überfalls auf Polen, am 23. August 1939, die Außenminister beider Länder, Ribbentrop und Molotow, schlossen. Die erneute Aufteilung Polens, die Eingliederung der Region um Lemberg (Lwiw) und des Baltikums in die Sowjetunion ordnete die ost-mitteleuropäischen Territorien vorübergehend neu. Der Warenaustausch zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland wuchs; strategisch wichtige Rohstoffe wurden noch am Tag vor dem Überfall auf die Sowjetunion von dieser vertragstreu an den startbereiten Angreifer geliefert. Dieser bis dato brutalste Krieg der Menschheitsgeschichte kostete über 26 Millionen Sowjetbürgern, Soldaten wie Zivilisten, das Leben. Diese wie auch Erfahrungen der Deutschen beherrschten nach dem militärischen Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland lange Zeit das Verhältnis zwischen der UdSSR und beiden 1949 gegründeten deutschen Staaten.

Die »trilateralen Beziehungen« zwischen Moskau, Bonn und Ostberlin schildert Creuzberger unter anderem an der Moskaureise des ersten bundesdeutschen Kanzlers Konrad Adenauer zwecks Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangen sowie der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. Der spätere Rüstungswettlauf, die Verjüngung, an der Spitze der KPdSU mit Michael Gorbatschow, dessen Treffen mit Helmut Kohl im Kaukasus und die deutsche Einigung runden den zeitgeschichtlichen Teil ab. Präsident Wladimir Putin attestiert der Autor eine aggressive Politik nach innen und außen. Über dessen harten Kurs gegenüber der Ukraine scheint er nicht überrascht zu sein.

Creuzberger gelingt es, das Besondere des Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland zu beschreiben, ohne es auf ein »endgültiges« Etikett zu verengen. Die Fakten dieses Jahrhunderts sind zu komplex, teilweise widersprüchlich. Und die Opferzahlen seien so ungeheuerlich, die immer wieder erfolgreich unternommenen Schritte zur Verständigung und zum Verstehen so vielfältig, die handelnden Personen so unterschiedlich, dass ein übergreifender Begriff unmöglich wäre. Trotzdem sei das, was gewesen ist und gegenwärtig geschieht, Bestandteil einer Wirklichkeit, die auch in Zukunft weiterwirken werde. Deshalb sei die Kenntnis darum unabdingbar.

Eine Erkenntnis kann jedoch aus diesem besonderen deutsch-russischen Jahrhundert gewonnen werden: Gute Wirtschaftsbeziehungen sind vielfach Voraussetzungen für gute politische Beziehungen. Oft ist es aber auch umgekehrt: Die politischen Verhältnisse prägen die Wirtschaftsbeziehungen.

Stefan Creuzberger: Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung. Rowohlt, 670 S., geb., 36 €.

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