- Kultur
- »Die Woche« von Heike Geißler
Im Zweifel für den Zweifel
Heike Geißler erzählt in ihrem Roman »Die Woche« von den unmöglichen Formen des Protests gegen die alltäglichen Zumutungen im Kapitalismus
Die Woche bildet gewöhnlich eine verlässliche Maßeinheit im zeitlichen Kontinuum. Nicht so in Heike Geißlers gleichnamigen Roman. Hier ist die Woche übervoll mit Montagen, sie platzt geradewegs aus allen Nähten. In Leipzig, dem Schauplatz des Erzählten von 2015 bis 2017, finden somit an immer mehr Tagen der Woche Demonstrationen der völkisch-rassistischen Organisation Legida statt. Kaum war Dienstag, schon ist wieder Montag, wieder sammeln sich zahlreiche Demonstrant*innen zu Gegenprotesten. Durch die steigende Frequenz der Montage tritt Wiederholung an die Stelle einer fortschreitenden Handlungsentwicklung, eine quälende Wiederkehr des Immergleichen, die durch schlaglichtartige Rückblenden in die schwarz-weiß gezeichneten Kulissen des frühen 20. Jahrhunderts eine historische Dimension entfaltet.
Von diesen und anderen, zunehmend in den Alltag drängenden Zumutungen erzählt Heike Geißlers kürzlich im Suhrkamp-Verlag erschienener Gegenwartsroman. Entmietungen und der Ausverkauf der Stadt, Wohnungslosigkeit, Geldnot und prekäre Arbeitsverhältnisse sowie das von der europäischen Politik hingenommene Massensterben von Migrant*innen im Mittelmeer sind die Themen, die in den assoziativ verknüpften Erzählfluss eingespeist werden. Dabei umkreist der Text als essayistische Versuchsanordnung die Frage, wie sich die Ohnmacht angesichts der Vielzahl gesellschaftlicher Verwerfungen überwinden lässt. Das antifaschistische Aktionsnetzwerk »Leipzig nimmt Platz« ruft seit 2009 unter dem Hashtag »Platznehmen« regelmäßig dazu auf, Neonaziaufmärschen mit Aktionen des zivilen Ungehorsams zu begegnen. Gegen die erste Legida-Demonstration mit 2000 bis 3000 Teilnehmenden gingen im Januar 2015 circa 30 000 Gegendemonstrant*innen in Leipzig auf die Straße.
Die Ich-Erzählerin des Romans und ihre ständige Gesprächspartnerin Constanze nehmen jeden Montag an den Protesten gegen die Legida-Aufzüge teil, doch macht sich bei ihnen auf Dauer das Gefühl der Vergeblichkeit breit. Die Demonstrationen erscheinen bloß noch als »schöne Fiktion von funktionierender Gegenwehr«, die regelmäßigen Aufmärsche und ihre Blockaden sind längst Teil des alltäglichen Normalbetriebs.
Wie lässt sich das Erstarken der Neuen Rechten, dieses »Karussell der Hässlichkeit«, das sich europaweit zu einem »Tornado«, einem »Getöse« entwickelt hat, aufhalten? Und wie lassen sich Gentrifizierung und Verdrängung stören, wie lässt sich den Investmentunternehmen, die Wohnraum nach Mehrwert und Potenzial taxieren, Hindernisse in den Weg stellen? Auf diese Fragen liefert »Die Woche« keine einfachen Antworten.
In der fortlaufenden Suchbewegung eines inneren Monologs changiert der Text zwischen Verzweiflung, Wut, Ratlosigkeit und dem Wunsch nach Handlungsfähigkeit, Ungehorsam und Revolte: »Dieses elende Unwissen. Die ganze Schulbildung für die Katz.« In keiner bestehenden Bildungsinstitution werden Formen des politischen Widerstands eingeübt, daher macht die imaginierte Freundin der Ich-Erzählerin Vorschläge für ein alternatives Aus- und Fortbildungsprogramm. Als ironisches Vexierbild zum schulisch antrainierten Gehorsam soll an einer »Universität der Überwindung« etwa die »ambivalente Erfolgsgeschichte« des Zweifels gelehrt oder aus der »Frau, die nichts aushält«, eine Nummer für den Zirkus entwickelt werden.
Politischer Aktivismus ist hier sowie an vielen anderen Stellen im Buch in der Semantik artistischer Kleinkunst beschrieben, als Drahtseilakt und Kunst einer »präzisen Torheit« - schließlich erfordert auch politischer Ungehorsam Übung.
»Wir haben ja gar keine Worte mehr und zugleich ganz viele.« - Antithesen wie diese durchziehen den Text. Durch die Bejahung der inneren Widersprüche lässt er sich nur schwer auf eine eindeutige Position festlegen. Auch in formaler Hinsicht erprobt die Autorin Strategien der Störung und verwebt zeitkritische Beobachtungen, persönliche Erfahrungen und fantastische Elemente zu einem kaleidoskopartigen Textgefüge.
Keine autoritäre Erzählinstanz gibt dabei lenkend den Pfad vor. Stattdessen wird die Erzählstimme von Assoziationen und Ideen, von Abbrüchen und Neuanfängen umgetrieben. Jedem kohärenten »Storytelling« wird explizit eine Absage erteilt. Was auf der Ebene der mit Wochentagen betitelten Buchkapitel als peinigende Zeitschleife erscheint, spiegelt sich auf der narrativen Ebene in einem bruchstückhaften Schreiben wider, das um die immergleichen Fragen kreist. Wenngleich als ästhetische Entscheidung stimmig, dürfte sich das im fiktiven Trainingsprogramm angedachte »Stretching der Comfort Zone« beim Lesen des Buchs daher durchaus einstellen.
In der Erzählperspektive wechselt der Text zwischen verschiedenen Modi: Teils aus einer stark autofiktional gefärbten Ich-Perspektive erzählt, werden persönliche Erfahrungen mit Sexismus oder alltägliche Belastungen durch Care-Arbeit thematisiert. Ängste und innere Konflikte, genauer: »der Tod« und »das unsichtbare Kind«, beanspruchen als personifizierte Phantasmen buchstäblich (Wohn-)Raum.
Zu einem anderen Teil ist der Text als Dialog oder in der Wir-Perspektive geschrieben, die Sätze sind hier im Staccato, eindringlich wie in einem Manifest aneinandergereiht. Angesprochen sind mit dem »Wir« zum einen die Ich-Erzählerin und ihre Verbündete Constanze, die sich als »proletarische Prinzessinnen« - geadelt lediglich durch symbolisches Kapital - in Fantasiewelten träumen, zum anderen das zeitgenössische Lesepublikum. Eingestreute Zitate von Laurie Anderson über Ursula K. Le Guin bis zu Gertrude Stein weiten den Dialog noch aus. Der beständige Wechsel der Perspektiven macht deutlich, dass die individuelle Seite politischer Handlungsmacht nicht ohne die kollektive Seite auskommt und umgekehrt: »Das ist ja das Mindeste, was wir tun konnten - die Scheiße persönlich nehmen.«
In Heike Geißlers letztem Buch »Saisonarbeit«, 2014 im Leipziger Verlag Spector Books erschienen, einer Reportage über die verheerenden Arbeitsbedingungen im Versandlager des Onlinekonzerns Amazon, zeichneten sich noch konkrete politische Praktiken wie kleine Akte der Sabotage im Betriebsablauf oder Organisierung in Form von Streiks als Handlungsoptionen am Horizont ab. In »Die Woche« ist die Perspektive ungewisser. Die Utopien und das Erfahrungswissen der revolutionären Arbeiter*innenbewegung sind abhandengekommen, stattdessen macht sich Ratlosigkeit breit. Die Grenze zwischen persönlicher Nabelschau und der Gegenwartsdiagnose einer nicht handlungsfähigen, ohnmächtigen politischen Linken ist dabei bewusst durchlässig gehalten.
»Wir stehen am Rand eines Krieges. Wir sehen alles deutlich, denn es ist deutlich zu sehen.« Angesichts der vielfachen gegenwärtigen Krisen ist diese Vorkriegsrhetorik bedrückend visionär. Aktueller denn je klingt heute die Frage: »Und was nun? Ich sage: Keine Ahnung. Selten so wenig gewusst wie jetzt.«
Heike Geißler: Die Woche. Suhrkamp, 316 S., geb., 24 €.
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