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- Ukraine-Krieg und Kriegsverbrechen
Gezielte Tötung von Zivilisten
Uno will eigene Experten zur Untersuchung der Massaker nach Butscha schicken
Die Hunderte von Leichen, die in den vergangenen Tagen in Vorstädten rund um Kiew gefunden wurden, sind augenscheinlich Opfer von Kriegsverbrechen. So viel lässt sich schon heute ohne große Zweifel feststellen. Nach dem Abzug der russischen Truppen waren in der Kleinstadt Butscha nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew mindestens 330 Todesopfer entdeckt worden.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.
Experten wie der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der auch Richter am Kosovo-Tribunal in Den Haag ist, ordnen solche Taten klar als Kriegsverbrechen ein: »In Fällen, wo Zivilisten Opfer von Gewalt sind, sei es direkte Tötung, grausame Behandlung oder sexuelle Gewalt, haben wir ganz klar eine Verletzung des ehernen Grundsatzes des Schutzes der Zivilbevölkerung.«, so Ambos.
Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) spricht von Hinweisen für gezielte Tötungen von Zivilisten in Butscha. »Alles deutet darauf hin, dass die Opfer absichtlich ins Visier genommen und direkt getötet wurden«, sagte OHCHR-Sprecherin Elizabeth Throssell am Dienstag in Genf. Absichtliche Angriffe auf Zivilisten in bewaffneten Konflikten seien ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und somit als Kriegsverbrechen anzusehen.
Es lasse sich kaum ein militärischer Zusammenhang vorstellen, »wenn ein Mensch mit einer Kugel im Kopf auf der Straße liegt« oder Leichen mit verbrannten Körpern gefunden würden, sagte Throssell und verwies auf Fotos von toten Zivilisten mit gefesselten Händen und von teilweise nackten Frauen, deren Körper verbrannt worden waren.
Die Vereinten Nationen wollen die Vorfälle in Butscha von eigenen Menschenrechtsexperten untersuchen lassen, so OHCHR-Sprecherin Elizabeth Throssell. Derzeit ist ein Team des UN-Büros mit etwa 50 Mitarbeitern in Uschgorod im Westen der Ukraine stationiert, etwa 800 Kilometer von der Hauptstadt Kiew und dem Vorort Butscha entfernt. Ein Termin wurde nicht genannt. Zusätzlich werde sich eine Untersuchungskommission aus unabhängigen Juristen mit dem Geschehen in Butscha beschäftigen.
Das Gremium soll im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats Beweise für mögliche Kriegsverbrechen sammeln. »Es geht auf mehreren Ebenen voran«, sagte Throssell. Zuvor hatte die ukrainische Regierung angekündigt, mit Internationalem Strafgerichtshof, Rotem Kreuz und der EU zusammenzuarbeiten, um Verbrechen in Butscha und anderen Städten aufzuklären.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft verzeichnete nach eigenen Angaben mehr als 7000 Meldungen über russische Kriegsverbrechen in der Region um die Hauptstadt Kiew. Die meisten Opfer habe es in Borodjanka gegeben, sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa der Agentur Unian zufolge. »Ich denke, wir werden gesondert über Borodjanka sprechen.« Auf Videos im Internet filmt ein Journalist aus Butscha beim Gang durch die Stadt die Reste verkohlter Leichen. Internationale Journalisten waren von der Ukraine eingeladen worden, sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.
Außer in Butscha soll es auch in nordöstlichen Vororten von Kiew Kriegsverbrechen gegeben haben. Das geht aus Augenzeugenberichten hervor, die rbb24-Recherche vorliegen. Danach sollen auch in den Ortschaften Bohdaniwka und Schewtschenkowe Zivilisten willkürlich hingerichtet worden sein. Eine 46-jährige Frau berichtete rbb24-Recherche, sie sei in ihrer Datsche in Bohdaniwka mit ihrem Mann und ihrer zehnjährigen Tochter am 9. März in die Gewalt russischer Soldaten geraten. Die Soldaten hätten ihren Mann willkürlich erschossen, nachdem er ihrem Verlangen nach Zigaretten nicht nachkommen konnte. Der Frau und der Tochter gelang später die Flucht.
In Schewtschenkowe soll ein Mann von russischen Soldaten erschossen worden sein, nachdem sie eine Camouflage-Jacke in seinem Auto entdeckt hätten. Über diesen Fall berichtete auch die britische Zeitung »Times«. Danach soll die Frau des Mordopfers nach der Tat mehrfach vergewaltigt worden sein. Auch ihr gelang später die Flucht. In diesem Fall ermittelt bereits die ukrainische Generalstaatsanwältin. rbb24-Recherche liegen zudem Aussagen über willkürliche Hinrichtungen in Irpin westlich von Kiew vor. Alle diese Aussagen müssen noch von unabhängiger Seite überprüft werden.
Verschiedene Staaten und Institutionen machen sich daran, die Vorfälle zu untersuchen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) sammeln bereits seit Wochen Beweise zu möglichen Kriegsverbrechen und haben erste eindeutige Belege vorgelegt. In Deutschland befassen sich Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und die Bundesanwaltschaft mit den Vorwürfen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat die aus der Ukraine Geflüchteten aufgerufen, deutschen Ermittlern Hinweise auf Kriegsverbrechen zu geben. »Das können Handyaufnahmen oder Zeugenaussagen sein, die bei der Polizei eingereicht werden können und vom Generalbundesanwalt ausgewertet werden«, sagte er dem »Kölner Stadt-Anzeiger« vom Dienstag.
Auch die französische Anti-Terrorstaatsanwaltschaft hat Untersuchungen gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgenommen. Bei den drei am Dienstag gestarteten Verfahren gehe es um Handlungen gegen französische Staatsbürger, unter anderem des willentlichen Angriffs auf unbeteiligte Zivilisten in den Städten Mariupol, Hostomel und Tschernihiw.
Für die Ukraine trägt zweifelsfrei Russland die Verantwortung für die Massaker. Die Ukraine spricht von schweren Kriegsverbrechen und »Völkermord« und macht russische Truppen verantwortlich. Dennoch betonte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuletzt, dass die Verhandlungen mit Russland fortgesetzt werden sollen.
Die russische Regierung spricht dagegen von einer Inszenierung durch die ukrainische Regierung. Die habe in mehreren Städten der Ukraine fingierte Videoaufnahmen von getöteten Zivilisten angefertigt. Das ukrainische Militär habe in dem nordwestlich von Kiew gelegenen Dorf Moschtschun ein inszeniertes Video aufgenommen, das »friedliche Zivilisten zeigt, die angeblich von den russischen Streitkräften getötet wurden«, erklärte das russische Verteidigungsministerium am Dienstag. Ähnliche Aufnahmen würden derzeit von ukrainischen Spezialkräften »in Sumy, Konotop und anderen Städten« der Ukraine organisiert. Das Ministerium machte keine Angaben zu Beweisen.
Darstellungen der »New York Times« widerlegen die russischen Erklärungsversuche. Demnach zeigten Videos und Satellitenbilder aus dem Kiewer Vorort Butscha, dass sich die Überreste mehrerer Menschen bereits Mitte März auf der Straße befanden, schrieb die Zeitung am Dienstag. Auf einem der Bilder, das mit dem Datum vom 19. März datiert ist, waren sieben Personen zu sehen. Die Analyse weiterer Aufnahmen habe gezeigt, dass die Körper später nicht bewegt worden seien. Die Todesursache der Menschen sei daraus nicht klar ersichtlich, hieß es weiter. Auf Videos war zu sehen, dass drei der Menschen neben Fahrrädern lagen; bei einigen waren die Hände zusammengebunden.
Laut »FAZ« vom Dienstag deuteten Packzettel in Munitionskisten darauf hin, dass an den Massakern von Butscha eine Einheit der russischen Streitkräfte beteiligt war, »die mutmaßlich schon bei der Annexion der Krim mitgewirkt hat und im August 2014 in der Ostukraine gekämpft hat.« Und schon am Montag habe der ukrainische Militärgeheimdienst eine Liste mit Soldaten der 64. Motorschützenbrigade der russischen Armee aus dem Gebiet Chabarowsk am Pazifischen Ozean veröffentlicht, so die »FAZ«.
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