Die Rückkehr der explosiven Saat

In Kolumbien setzen Drogenbanden wie einst Militärs, Paramilitärs und Guerillas auf Antipersonen-Minen

  • Knut Henkel, Bogotá
  • Lesedauer: 8 Min.

Am Schultor wartet der Rektor Jorge Siniestra auf den ungewohnten Besuch. »Wir freuen uns, dass ein ausländischer Journalist unsere Anstrengungen, die Kinder vor Altmunition und Antipersonen-Minen zu warnen, registriert«, erklärt der stämmige Mann. Er weist den Weg zum Eingang eines Klassenraums, wo Klassenlehrerin María Inés Borja schon wartet. Neben ihr steht Luz Dary Landázury, Referentin der Kolumbianischen Kampagne gegen Minen (CCCM), mit ihrer dicken Fotomappe unter den Arm geklemmt. Sie wird heute die erste Stunde des Unterrichts bestreiten. Nicht zum ersten Mal, denn die afrokolumbianische Frau mit den knallroten Pumps und dem schwarzen Rucksack, auf dem das CCCM-Logo prangt, ist regelmäßig in der Bildungseinrichtung zugegen.

Die Referentin Landázury klärt die Schüler*innen auf: »Candelillas befindet sich in einer Hochrisiko-Region. Hier ist der Bürgerkrieg wieder aufgeflammt, zwei Banden konkurrieren um die Kontrolle über den Kokamarkt und die Schmuggelrouten über die Grenze«, raunt die sympathische Frau mir noch zu, bevor sie ihre Mappe auf dem Pult der Klassenlehrerin aufstellt. Dann begrüßt sie die rund zwei Dutzend 13- bis 14-jährigen Schüler*innen aus der Kleinstadt ganz im Süden Kolumbiens, nur zwanzig Fahrtminuten von Ecuador entfernt.

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»Ich will euch vor herumliegender Munition und mehr noch vor heimtückischen Minen warnen, die überall lauern können - auch auf eurem Schulweg. Das gilt vor allem für diejenigen, die in einem der Dörfer in der Umgebung von Candelillas leben«, erklärt sie. Dann greift sie zu ihrer dicken Bildermappe, auf deren Vorderseite ein Mann zu sehen ist, der auf einer Bank sitzt und in ein Heft schreibt, das auf seinem Oberschenkel liegt - darunter lugen leere Hosenbeine hervor.

»Wisst ihr wie Patronen, Granaten und Minen aussehen, wie sie versteckt sein können, was ihr macht, wenn ihr ein Kabel irgendwo aus der Erde hervorlugen seht«, fragt sie und blickt in die Runde. Klassenlehrerin Borja sitzt an einem der freien Pulte in der letzten Reihe und macht ein Foto von Luz Dary Landázury, wie sie mit der aufgeklappten Mappe durch die Reihe geht und jedem und jeder Heranwachsenden die Fotos von Minen unterschiedlicher Bauart unter die Nase hält. Kleine und mittelgroße Minen sind darauf zu sehen, aus Plastik, aus Metall, verrostet, von Matsch bedeckt, in großen Pfützen liegend oder aber mit einer feinen Erdschicht bedeckt, so dass sie kaum zu erkennen sind. Ausgelegt, um den Zugang zu Kokafeldern, die Zugänge zu Camps der kriminellen, illegalen Banden oder wichtige Pfade für den Nachschub mit Chemikalien und Waffen zu versperren oder zu sichern.

Positive Bilanz - gefährliche Realität!

Minen gehören zum Alltag in Kolumbien, wo sie über Jahrzehnte von der Guerilla und bis in die 1980er Jahre auch von den Militärs und zum Teil auch von den Paramilitärs genutzt wurden. Die Praxis besteht teilweise bis heute fort. Zehntausende, so schätzen die Expert*innen von der Kolumbianischen Kampagne gegen Minen liegen im Land noch versteckt herum und nur in wenigen Gebieten wurden sie flächendeckend beseitigt. Ein paar Vorzeigeprojekte hat es gegeben, wo Ex-Guerilleros der Farc, die im November 2016 nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit der kolumbianischen Regierung die Waffen niederlegten, gemeinsam mit der Armee einzelne Dörfer von dem Fluch der heimtückischen Sprengfallen befreiten. Erfolgsprojekte, welche die Regierung gern herausstellt. Sie will weismachen, dass unter dem noch amtierenden rechten Präsidenten Iván Duque großartige Arbeit geleistet wurde. Finanziert wurde sie überwiegend aus dem Ausland, darunter auch von Deutschland.

CCCM-Referentin Landázury teilt die Sicht der Regierung nicht, und die offiziellen Opferzahlen geben ihr Recht. Die weisen eine steigende Tendenz auf. Während 2016 und auch 2017 die Zahl der zivilen Opfer mit 38 und 42 relativ niedrig lag, stieg sie 2018 auf 94, 2020 auf 110 an. 2021 sank die Zahl der Opfer dann wieder auf 93.

Die gestiegenen Opferzahlen haben einen erkennbaren Grund. »Illegale bewaffnete Akteure, die vor allem in der Grenzregion zu Ecuador, aber auch in anderen strategisch wichtigen Regionen erneut aktiv sind, installieren neue Minen«, erklärt Landázury. Auch die Sozialarbeiter der Caritas Tumaco geben ihr Recht. Die gestiegenen Zahlen sind ein wesentlicher Grund, weshalb Luz Dary Landázury wieder vermehrt an der Schule von Candelillas aktiv ist, was Rektor Jorge Sinisteras begrüßt. Er schätzt die redegewandte und agile Frau, die bei den Schüler*innen gut ankommt.

Eine Frage hat sich Landázury heute für das letzte Drittel ihres Vortrags aufgehoben. »Wer kennt ein Opfer einer Antipersonen-Mine?« Drei Finger gehen schnell in die Höhe, zwei weitere folgen zögerlich, und eine Schülerin nimmt all ihren Mut zusammen und fragt: »Wie war das bei Dir? Wann hattest Du Deinen Unfall?« Sie weiß wie so viele in der Kleinstadt, dass Luz Dary Landázury selbst Opfer einer Antipersonen-Mine wurde. Sie antwortet knapp und präzise, aber klar signalisierend, dass ihr eigener Unfall nicht in den Mittelpunkt rücken soll: »Es war am 10. Oktober 2012, als ich mit meiner Tochter auf dem Schoss in einem Sammeltaxi saß und wir gerade den Dorfeingang passierten, als der Wagen einen Satz machte und mir ein Schmerz ins linke Bein fuhr.« Der Wagen war über eine Mine gefahren, deren Splitter das Bodenblech durchschnitten und sich in Landázurys linkes Bein bohrten sowie den linken Arm schwer verletzten. Erst vier Stunden später traf sie im Krankenhaus von Tumaco ein, wo sie notdürftig versorgt wurde. Am nächsten Tag wurde sie weiter in die besser ausgestattete Klinik von Pasto transportiert, wo sie seitdem mehrfach operiert wurde.

Landázury hat ihr Erlebnis mit der Mine geprägt. Es hat ihr Leben grundlegend verändert. Seitdem engagiert sie sich für die Opfer, für Prävention und ein Ende des Ausbringens der Sprengfallen. Verharmlosend wird das oft als Säen bezeichnet, was Landázury rigoros ablehnt. »Das verharmlost die Tatsache, dass die Verstümmelung und auch der Tod von Kindern, Frauen und Männern in Kauf genommen werden«, ärgert sie sich, lange, nachdem sie den Vortrag in der Schule beendet hat und auf dem Weg nach Hause ist. Dort streift sie die Pumps erst einmal in der Ecke hinter der Tür ab, zieht bequeme Turnschuhe an und kocht Kaffee.

Die Rückkehr der Sprengfallen

Landázury ist Mutter von vier Kindern. Es ist überaus mutig von ihr, dass sie einen Journalisten mit nach Hause bringt, denn in Candelillas haben die Wände Ohren. Die Nachbarn beobachten einander aufmerksam, und meistens gehen die Informationen schnell weiter an eine der beiden konkurrierenden Banden. Los Treinta, die Dreißig, und Los Contadores, die Buchhalter, nennen sie sich. Sie konkurrieren um die Kontrolle der Region. Dabei geht es sowohl um Anbauflächen für die Kokasträucher, als auch um die Schmuggelrouten nach Ecuador - über Land und über den Río Mira, der sich am Rande des Ortes entlangwindet und ein paar Dutzend Kilometer weiter in den Pazifik fließt. Verhältnisse, die Landázury die Augen rollen lassen. Ihre gesamte Familie lebt in Candelillas und ihre jüngste Tochter geht an die Schule, wo sie ihre Präventionskurse gibt. Also kritisiert sie die Verhältnisse, und dazu gehört die Tatsache, dass der kolumbianische Staat seinen im Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla fixierten Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Der Staat ist nicht in die einst von der Guerilla kontrollierten Gebiete nachgerückt. Das Vakuum wurde nicht gefüllt - nicht mit zivilen Institutionen, Entwicklungs- und Infrastrukturprogrammen und auch nicht militärisch. Zwar gibt es Armee-Einheiten in der Region, aber für die hat Landázury nur eine wegwerfende Handbewegung übrig.

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Nach dem Friedensabkommen von 2016 währte der Frieden in Candelillas 18 Monate, erinnert sie sich an die Zeit, als in der kleinen Stadt diskutiert und Gemeinsamkeiten ausgelotet wurden. Heute dagegen sind die Fronten wieder verhärtet. Das hat viele Gründe. Einer ist, dass Hilfsprogramme nicht nachhaltig angelegt waren. »Wie sollen sie funktionieren und sich langfristig etwas ändern, wenn sie nicht verknüpft sind, wenn die Straßen und Wege fehlen, um Produkte, ob Kakao, Hühnereier, Gemüse oder Grundnahrungsmittel zum nächsten Markt zu transportieren?«, fragt sie verärgert. Auch deswegen nimmt in der Region um Tumaco der Kokaanbau wieder zu. Damit einher geht eine steigende Mordrate.

Landesweit sind es fünf, sechs Regionen, wo es an staatlicher Präsenz fehlt, bewaffnete Banden in das Vakuum stoßen und der Kriegszustand wieder aufflackert, berichten Menschenrechtsorganisationen. Tumaco und große Teile des Verwaltungsbezirks Nariño gehören dazu. Darunter Candelillas, stöhnt Luz Dary Landázury. Sie ist ein beachtliches persönliches Risiko eingegangen, einen Journalisten in ihre Heimatstadt und in deren Schule eingeladen zu haben. Klare Vorgaben gab es vorab, darunter die, keine Fotos in Candelillas zu machen. »Ich will schließlich nicht von einer der beiden Banden aufgefordert werden, binnen einer Stunde Candelillas zu verlassen«, sagt sie mit einem bitteren Lachen. Aufgeben ist nicht ihre Sache, und so macht sie weiter, warnt die Kinder vor den Risiken der Minen, die rund um Candelillas wieder installiert werden. Beide Banden sichern so ihre Gebiete ab - und nehmen die zivilen Opfer bewusst in Kauf. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis es erneut ein Opfer gibt, glaubt Landázury. Daran werden ihre Kurse wohl kaum etwas ändern.

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