- Politik
- Frankreich hat die Wahl
Französischer Krimi
Bei der Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen am Sonntag steht die Zukunft des Landes und der EU auf dem Spiel
Die Stichwahl am kommenden Sonntag zwischen dem amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron und seiner rechtsextremen Herausforderin Marine Le Pen dürfte knapper ausfallen als alle früheren Präsidentschaftswahlen der seit 1958 bestehenden Fünften Republik. Der Abstand zwischen den beiden Kandidaten, der im ersten Wahlgang nur rund vier Prozentpunkte ausgemacht hatte, ist in den Umfragen der vergangenen Tage weiter geschrumpft und hat bereits die »Unsicherheitsbandbreite« solcher Meinungsbefragungen erreicht. Damit ist die von den meisten Franzosen erwartete Wiederwahl von Macron zwar nach wie vor wahrscheinlich, aber auch eine Überraschung längst nicht ausgeschlossen.
Sowohl Macron als auch Le Pen haben die zwei Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang für einen intensiven Wahlkampf mit Reisen in die verschiedenen Regionen des Landes genutzt, mit Meetings und Begegnungen mit vielen Menschen vor Ort. Dabei lieferten sich die Kandidaten zugleich ein Duell auf Distanz, indem sie umgehend auf neueste, durch die Medien verbreitete Äußerungen ihres Gegners reagierten und diese zu widerlegen versuchten.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Themen Nato und europäische Verteidigung spielten in der öffentlichen Debatte fast keine Rolle, außer im Zusammenhang mit den Energiepreiserhöhungen. Marine Le Pen konzentrierte sich besonders auf das viele Franzosen akut bewegende Problem der schwindenden Kaufkraft ihrer Löhne oder Renten. Sie versuchte, eine Einheitsfront der sozial benachteiligten Franzosen zu schaffen und spielte sich als ihre Verteidigerin auf. Dabei sparte Le Pen nicht mit Versprechungen, die aber den Berechnungen von Experten zufolge katastrophale wirtschaftliche Folgen hätten.
Emmanuel Macron, der oft als arrogant kritisiert wird, gab sich betont bürgernah. Außerdem versuchte er, sein von vielen Menschen als »rechtslastig« eingeschätztes Wahlprogramm durch betont linke und ökologische Aussagen zu korrigieren. Dabei scheute sich der Präsident nicht, auch Anleihen bei politischen Gegnern zu nehmen. Beispielsweise deutete er an, dass er bei der besonders umstrittenen Rentenreform durchaus bereit sei, über das von ihm angestrebte Renteneintrittsalter von 65 Jahren zu diskutieren. Auch kündigte Macron an, seinen künftigen Regierungschef mit »ökologischer Planung« zu beauftragen - ein Begriff, den Jean-Luc Mélenchon in die politische Debatte eingebracht hatte.
Die Anhänger und Wähler von dessen linkspopulistischer Bewegung La France insoumise (LFI) wurden sowohl von Emmanuel Macron als auch von Marine Le Pen stark umworben, weil sie eine der ganz wenigen »Stimmenreserven« darstellen. Mélenchon, der im ersten Wahlkampf sein Ziel knapp verfehlt hatte, Marine Le Pen den Weg in die Stichwahl zu verlegen und sich selbst dafür zu qualifizieren, hatte für den zweiten Wahlgang keine Wahlempfehlung gegeben, sondern nur erklärt, Le Pen dürfe »keine Stimme bekommen«.
Bei einer Mitgliederbefragung von LFI sprach sich die Mehrheit dafür aus, entweder der Stichwahl fernzubleiben oder einen weißen Zettel in die Urne zu werfen. Doch Umfragen ergaben, dass dies nur jeder dritte LFI-Wähler des ersten Wahlgangs tun wird. Das zweite Drittel will Emmanuel Macron wählen und das dritte Marine Le Pen - trotz der Mahnung von Mélenchon. Umfragen bestätigen, dass es eine gewisse Wählerwanderung von äußerst linken Positionen hin zu den Rechtsextremen gibt.
Die von Marine Le Pen in den zurückliegenden Jahren betriebene »Entdiabolisierung« - also die Entschärfung der abschreckenden Diktion ihrer Bewegung bei Aufrechterhaltung der nationalistischen und rassistischen Grundpositionen - ist nicht ohne Wirkung geblieben. Dadurch haben heute viele rechts gesinnte oder politisch nicht festgelegte Franzosen weniger »Berührungsscheu« gegenüber dem Rassemblement National. Das bedeutet aber, dass heute die »Republikanische Front« aller demokratisch eingestellten Franzosen gegen die Rechtsradikalen nicht mehr wie früher funktioniert. Bei der Präsidentschaftswahl 2002 hatte diese noch einen Erfolg von Jean-Marie Le Pen - des Vaters und Gründers der Partei der heutigen Kandidatin - verhindert, weil sich die Anhänger der rechten wie linken Parteien ungeachtet ihrer Differenzen hinter Jacques Chirac stellten. Vor allem betrifft das die breite Masse der Bevölkerung, während sich die Eliten politisch bewusster entscheiden.
Viele rechte wie linke Politiker rufen auch heute dazu auf, bei der Stichwahl Marine Le Pen den Weg zu versperren und für Emmanuel Macron zu stimmen. Dazu gehören die ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande, die Ex-Premierminister Jean-Pierre Raffarin, Jean-Marc Ayrault, Manuel Valls, Bernard Cazeneuve und Edouard Philippe. Von Macrons Mitkandidaten im ersten Wahlgang werben die Sozialistin Anne Hidalgo, der Grüne Yannick Jadot und der Kommunist Fabien Roussel dafür, ihm die Stimme zu geben. Auch der Unternehmerverband Medef spricht sich nachdrücklich für die Wiederwahl von Macron aus. Finanzexperten zufolge reagiert die Börse angesichts der Möglichkeit eines Wahlerfolgs von Marine Le Pen »besorgt und verunsichert«.
Macron hat es aber schwer, die jungen Franzosen für sich zu gewinnen. Unter ihnen breitet sich die Losung »Weder noch« aus und damit die Wahlempfehlung, mit einem weißen Wahlzettel zu votieren oder gar nicht erst ins Wahlbüro zu gehen. Die Mahnung, dass das letztlich Marine Le Pen zugute käme, verfehlt hier ihre Wirkung.
Angesichts der Enttäuschung vieler Franzosen über nicht eingehaltene Versprechungen der verschiedenen rechten wie linken Präsidenten der vergangenen Jahre, von Nicolas Sarkozy über François Hollande bis Emmanuel Macron, sind inzwischen nicht wenige Wähler der Meinung, man sollte durchaus einmal den Rechtsextremen und Marine Le Pen eine Chance zum Regieren geben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.