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Aus dem Lot

Die industrielle Fischerei stört das Ökosystem der Meere stärker als bislang angenommen

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 4 Min.
Heringsfang in der Nordsee
Heringsfang in der Nordsee

Das Leben im Ozean unterliegt offenbar klaren Gesetzmäßigkeiten. Bereits vor 50 Jahren konnte ein Forschungsteam um den kanadischen Meeresbiologen Ray Sheldon zeigen, dass die Gesamtbiomasse aller Individuen innerhalb einer von sechs verschiedenen Größenordnungen von Plankton jeweils miteinander übereinstimmte: Waren die Organismen kleiner, kamen sie zahlreicher vor, bei den größeren nahm die Individuenzahl entsprechend ab. Dabei stützte sich Sheldons Team auf Proben, die in rund 80 Forschungsstationen entlang der Küsten beider Amerikas gesammelt worden waren.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Dass dies in den vom Menschen noch weitgehend unberührten Ozeanen für alle Organismen auf dem ganzen Globus zutrifft, belegt eine Ende 2021 im Fachjournal »Science Advances« erschienene Studie, die auf umfangreichem Datenmaterial und Modellrechnungen fußt. Demnach betrug das Nettonassgewicht der Biomasse aller Individuen der jeweiligen Größenklassen relativ konstant eine Gigatonne (Gt). Lediglich die kleinsten und die größten wichen von diesem Muster deutlich ab: So war die Biomasse der Bakterien größer und die der größten Meeressäuger kleiner als die der anderen Gruppen. Welchen Hintergrund diese wundersame Ordnung der Meereslebewesen hatte, ist noch ungeklärt.

Industrielle Fischerei und Walfang brachten das natürliche Gleichgewicht durcheinander: »Die Masse der kommerziell verwertbaren Fische – größer als 10 Gramm in bis zu 200 Metern Tiefe – ist seit 1850 um 66 Prozent gesunken. 1996 erreichte die Fischerei ihren Höhepunkt: 130 Millionen Tonnen Fisch wurden damals aus dem Meer geholt. Seitdem gehen die Mengen trotz immer höheren Aufwands kontinuierlich zurück«, konstatiert die Max-Planck-Gesellschaft auf ihrer Homepage. Bei den größten Lebewesen der Meere, den Blauwalen, sei die Differenz am eklatantesten: Ihr Bestand reduzierte sich seit 1850 um ganze 97 Prozent. Nur noch 10 000 Exemplare ziehen heute durch die Ozeane. »Wir haben den Teil des Artenspektrums gekappt, der uns am wichtigsten ist, den wir bewundern, den wir verzehren«, sagte der Hauptautor der Studie, Ian Hatton vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig in einem Vortrag Ende März.

Dabei ersetzt der Mensch nicht einfach die Top-Prädatoren der Ozeane. Anders als Thunfisch oder Hai lebt er an Land. Er entzieht dem marinen Ökosystem enorme Mengen an Biomasse, ohne ihm etwas stofflich Verwertbares zurückzugeben. Besondere Aufmerksamkeit erregte bei Hatton und Kolleg*innen das Ausmaß, mit dem der Mensch die letzten zwei Jahrhunderte in die Energieflüsse im Ozean – die Umwandlung von Primärenergie in die Biomasse der Primärproduzenten und der nachfolgenden Glieder des Nahrungsnetzes – eingegriffen hat. Nach ihren Berechnungen lag die verlorene Energie der Fische im Ozean mit umgerechnet 12 Gigatonnen (Gt) pro Jahr hundertmal so hoch wie die, die der Mensch heute durch Fischfang gewinnt.

»Indem wir so viele Fische töten, reduzieren wir ihre Populationen in erheblich stärkerem Maße als ihre natürlichen Feinde es getan haben«, erklärt der Mitautor Eric Galbraith. »Das bedeutet, dass sie ihre Rolle im Ökosystem schlechter erfüllen können und auch, dass sie schwieriger zu fangen sind.« Weitere Nachforschungen müssen zeigen, wo die »verlorene Energie« geblieben ist, ob kleinere Lebewesen wie Krustentiere also zum Beispiel im Gegensatz zu den höheren Tieren von dem menschlichen Eingriff profitierten und damit häufiger vorkommen. Laut Hatton gibt es für letzteres derzeit jedoch keine Anhaltspunkte.

Offensichtlich beschränkt sich die festgestellte Störung zudem nicht nur auf das Nahrungsnetz: Wie eine im Oktober 2021 ebenfalls in »Science Advances« erschienene Studie eines Teams um Daniele Bianchi von der University of California in Los Angeles zeigt, an der auch Galbraith mitgearbeitet hat, beeinträchtigt die Überfischung der Weltmeere auch die Kapazität des Ozeans, Kohlenstoff zu speichern. Deutlich weniger Fische produzieren deutlich weniger Kot. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der er absinkt, spielt dieser aber eine zentrale Rolle bei dem Transport von Kohlenstoff in die Tiefsee, wo er über mehrere Hundert Jahre dem globalen Kreislauf entzogen ist.

Hattons Studie illustriert ferner, dass sich industrielle Fischerei und Walfang sogar noch weitaus negativer auf die Fischpopulationen auswirken als im Worst Case Szenario RCP 8.5 des Weltklimarats (IPCC) berechnet. Tatsächlich verstärken sich die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf das marine Ökosystem und die Fischerei sogar noch. »Je stärker wir das System mittels intensiver Fischerei schwächen, desto anfälliger wird es für die sich akkumulierenden Folgen des Klimawandels sein«, warnt Galbraith. Er plädiert deshalb dringend dafür, die Fischerei stark einzuschränken. »Die Vollständigkeit dieser Perspektive hat für mich eine sehr große Kraft, indem sie zeigt, dass unsere Handlungen nicht lokal beschränkt sind (sondern sich vielmehr auf den größten Lebensraum der Erde beziehen). Wir sind dabei, in raschem Tempo das Leben unseres Planeten zu verschlingen«, sagt er.

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