Popstreber im Oberseminar

Ein neues Reclam-Buch versammelt 33 nicht immer perfekte Texte über »33 (fast) perfekte Popsongs«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Das muss man auch erst mal bringen: beim Räsonieren über den »Fuck you«-Schwall des Gangsta-Rappers Snoop Dogg den Philosophen Ludwig Wittgenstein einzuflechten. Oder Miley Cyrus’ Fließbandliedchen »Wrecking ball« als Anlass zu nehmen, um über die Lyriktheorie des Germanistikprofessors Heinz Schlaffer zu dozieren.

Und dann wiederum ist es auch nicht überraschend. Denn die beiden Autoren Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele schreiben hauptberuflich für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, und da fühlt man sich schon von Status wegen verpflichtet, kulturindustriellen Pop für die Sonntagsschule herzurichten.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Also erheben die Herausgeber des Sammelbandes bereits im Vorwort den »Anspruch, Pop ernst zu nehmen«, und stellen zugleich mit akademischer Strenge klar, dass nicht jeder Song der FAZ-Weihen würdig ist: »Manches an Pop ist ja einfach nur Kitsch oder nicht weiter kommentarbedürftig.« Auf dass auch der bildungsferne Pop-Banause kapiert, dass er sich im Oberseminar für Literaturdoktoranden befindet, wird sich auch noch auf den seligen Marcel Reich-Ranicki berufen. Dieser hatte 1974 die »Frankfurter Anthologie« ins Leben gerufen und ließ fortan in der Tiefdruckbeilage der Wochenendausgabe Gedichte interpretieren. Ebbinghaus und Wiele sehen sich mit ihrer 2017 gestarteten »Frankfurter Pop-Anthologie« in dieser bildungsbürgerlichen Tradition. Mit dem Unterschied: Statt Lyrik - wer liest heutzutage noch Gedichte! - werden Lyrics, also Liedtexte, gedeutet.

Über 140 Songinterpretationen kamen seitdem zusammen. 33 davon fanden Einlass in »Drop It Like It’s Hot«. In der Musik würde man von einem Best-of-Album sprechen. Doch schon nach den ersten Beiträgen stellt man sich die Frage: Sind diese Artikel wirklich das Beste, was »versierte FAZ-Autorinnen und Gastbeiträger« (Klappentext) in fünf Jahren zustande gebracht haben? So ist FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, der sich in 30 Jahren Feuilletonarbeit nicht unbedingt als Popexperte hervorgetan hat, gleich mit zwei Texten vertreten - wohl eine arbeitsplatzsichernde Maßnahme der beiden Anthologisten.

Auch sollte man von Menschen, die Sprachanalyse betreiben, erwarten dürfen, dass sie das Werkzeug Sprache beherrschen. Stattdessen stolpert man immer wieder über Sätze, wie man sie zur Genüge aus Germanistikreferaten kennt, bei denen die Vortragenden mit Pseudo-Wissenschaftsjargon ihr Viertelwissen zu kaschieren versuchen: »Im allegorischen Bildfeld von Welle und Leben geht ›Container‹ aber nicht vollends auf.« »Unsere Eingangsthese können wir daher wie folgt präzisieren ...« »Dabei handelt es sich aber nicht um eine schlichte Verdopplung, sondern um die Abbreviatur eines Syllogismus.«

Ein derart verquastes Akademikerdeutsch verrät wenig über das jeweilige Lied, aber viel über das Selbstverständnis einer Zeitung, die solche Sätze unlektoriert abdruckt. Rund 30 Jahre nach Tarantinos »Pulp Fiction«, dem Film, der die Trivial- und Trashkultur adelte und mit einem Coolness-Siegel versah, strebt die FAZ noch immer gen Hochkultur. Sie bereitet den Pop wissenschaftlich auf und versucht ihn zu kanonisieren und im Klassikerregal einzureihen. Mit dieser intellektuellen Aufwertung betont sie zugleich die Wichtigkeit ihres Feuilletons - der Weg von Snoop Dogg zu Wittgenstein führt nur über die FAZ. Damit beweist die Zeitung, dass sie das Wesen der Popkultur nicht verstanden hat. Pop lebt von Unmittelbarkeit. Vom »ZACK! BUMM! PENG!«, von den heftigen Gefühlen, die ein Lied urplötzlich auslöst.

Daher ist es auch zweitrangig, welche Geschichte ein Lied erzählt. Viel wichtiger ist, welche individuelle Geschichte der einzelne Hörer damit verbindet. Denn ein Liedtext muss nicht literarisch wertvoll sein, um das Leben eines Menschen vom Kopf auf die Füße zu stellen oder ihm wenigstens über den Liebeskummer hinwegzuhelfen. Manchmal reicht schon ein tränenverheult herausgeschrienes »Es ist so oh, uh, ohne dich! Es ist so widerlich, ich will das nicht! Denkst du vielleicht auch mal an mich?« (Selig, »Ohne dich«). Deshalb sind mit jedem Song Millionen von persönlichen Geschichten verbunden.

Diese Storys sind in der Regel spannender als die sprachchirurgische Zerlegung von Versen und Refrains. Weshalb die besten Texte in »Drop It Like It’s Hot« jene sind, in denen Autoren davon erzählen, was sie mit einem bestimmten Lied verbinden. So schlägt Joachim Bessing die Erinnerungsbrücke von Michael Holm zu Rocko Schamoni, vom »Smog in Frankfurt« der 70er zum St. Pauli der 90er Jahre. Bei Nicola Rost führt der Weg zu »Davon geht die Welt nicht unter« über die eigene Oma.

Annette Humpe erinnert sich an ihre Jugend in der tiefsten Provinz. Wenn sie Revue passieren lässt, was »Sympathy for the devil« bei ihr als Teenagerin auslöste, kommt sie dem Kern dieses Stones-Songs näher als das Gros der Schreiber, die sich an Syntax und Semantik abarbeiten und einen Liedtext so analysieren, als wäre er ein Gedicht - Zeile für Zeile.

Diese Vorgehensweise aber hat schon damals im Deutschunterricht Generationen von Schülern auf ewig die Lyrik verleidet. Ähnliches wird dem Reclam-Band »Drop It Like It’s Hot« zum Glück nicht gelingen. Wer sich durch die wortreichen Lyrics-Interpretationen gekämpft hat (da werden Erinnerungen an die grünen und blauen Reclam-Büchlein wach, die einem die Lektüre der gelben Reclam-Büchlein, also der Originalwerke, ersparten), bekommt eine unbändige Lust auf laute Musik. Sogar auf solche mit Text.

Uwe Ebbinghaus und Jan Wiele: Drop It Like It’s Hot. 33 (fast) perfekte Popsongs. Reclam, 192 S., br., 15 €.

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