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Woher kommt die neue Energie?

Revolution als Kulturgeschichte: Enzo Traverso untersucht die Dynamik der Veränderung

  • Elfriede Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

Für Enzo Traverso sind Revolutionen Erschütterungen, die intensiv und kollektiv erlebt werden. Mit »Revolution« hat der an der Cornell University (Ithaca, USA) lehrende Historiker eine Kulturgeschichte der Revolution vorgelegt, die bald auch auf Deutsch im österreichischen Verlag Turia und Kant erscheinen wird.

Orientiert an Walter Benjamins unvollendet gebliebenem »Passagen-Werk« wirft Traverso einen neuen Blick auf die bisherigen Revolutionen und verdeutlicht, wie stark unsere heutige Weltsicht von ihnen geprägt ist. Dabei spielen Ikonographie, Symbole und Erinnerungsorte eine herausragende Rolle.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Traverso betrachtet Revolutionen als Unterbrechungen der historischen Kontinuität, nicht als Ergebnis einer deterministischen Kausalität. Revolutionen eröffnen neue Horizonte und lassen sich nicht leicht auf eine zeitliche Linie festlegen, als wären sie rein chronologische Berichte. Entgegen dem seit 1990 zirkulierenden Gemeinplatz, der jedes Begehren, die Welt zu verändern als totalitäre Bedrohung diffamiert, rehabilitiert Traverso den Revolutionsbegriff als einen Schlüssel zur Interpretation der Gegenwart.

Seine Methode entfernt sich von der traditionellen Geschichtsschreibung: Er untersucht die Revolutionen als eine Konstellation dialektischer Bilder im Sinne von Walter Benjamin, als widersprüchliche Dynamik, die eine Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft zutage fördert. Parallel zur Analyse der politischen Ideen, aus denen sich die Revolutionen speisten, vereint Traverso fragmentarische, oft vergessene Bestandteile von revolutionären Denkbildern wie Lokomotiven, Körper, Barrikaden, Fahnen, Orte, Gemälde, Plakate, Lieder, Symbole, Gedenktage etc. Diese Montage mündet in die Verflechtung von Revolution und Kommunismus, die das 20. Jahrhundert geprägt hat.

Revolutionäre Momente erzeugen neue Energien, die in der Lage sind, Gesellschaften, Institutionen und Ideen zu verändern. Als menschliche Erfindungen sind Revolutionen nicht unvermeidlich oder zwangsläufig. Aber wenn sie geschehen, finden sie Eingang ins kollektive Gedächtnis und bleiben über lange Zeiträume wirksam. Ihr Ausgang und ihr Verlauf sind so wenig vorgegeben wie ihr Eintreffen.

Revolutionen eröffnen einen Möglichkeitsraum, der in der Geschichte unterschiedlich genutzt wurde. Häufig erzeugen sie auch neue Formen von Ästhetik: Die Russische Revolution brachte den russischen Futurismus, den Suprematismus und den Konstruktivismus hervor. Mit dem Sturz des Deutschen Reiches und dem Spartakusaufstand 1918-1919 entstand der Dadaismus, und in den 20er Jahren erklärte der Surrealismus, dass es nicht ausreiche, die etablierte Ordnung zu stürzen, sondern dass auch die spirituellen Kräfte des Traums und des Unbewussten zu befreien sind.

Revolutionär*innen werden oft des Bildersturms bezichtigt. Bei genauerem Hinsehen entdeckt Enzo Traverso eine komplexere Realität: Die Pariser Kommune von 1871 hatte am 12. April 1871 ein Dekret erlassen, die Säule mit dem Reiterstandbild von Napoleon I. auf dem Place Vendôme abzubauen, geschmäht als Symbol von Tyrannei und Militarismus. Der Künstler Gustave Courbet schlug vor, sie nur ins Invaliden-Museum zu versetzen als Dokument einer überholten Zeit. Doch er wurde überstimmt im Rat der Kommune und die Säule wurde in einem öffentlichen Akt zerstört. Trotzdem galt Courbet später als Sündenbock, als der revolutionäre Bildersturm zum Vandalismus umgedeutet wurde. 1873 wurde die Säule wieder auf dem Place Vendôme errichtet. Die alte Ordnung war längst wieder hergestellt und mit ihr der Bezug zur überwunden geglaubten Vergangenheit.

Im Zuge der Russischen Revolution wurden wie schon im revolutionären Frankreich der 1790er Jahre systematisch Kirchen und Paläste zerstört. Doch in Russland reflektierten die Revolutionär*innen auch ihren Ikonoklasmus: 1924 entschied die Sowjetregierung, die Peter-Paul-Festung in St. Petersburg in ein Revolutionsmuseum zu verwandeln. Ursprünglich war dieses Gebäude dem Grabmal der imperialen Familie überlassen, um dann als zaristisches Gefängnis zu dienen. Nach 1917 wurde es erst eine Strafvollzugsanstalt für konterrevolutionäre Offiziere, dann ein Lokal der bolschewistischen Partei, während es dann im Bürgerkrieg eine militärische Garnison beherbergte.

Die Transformation eines so geschichtsträchtigen Ortes in ein Museum geschah in dem Moment, in dem die alte Hauptstadt ihren Namen änderte und zu Leningrad umbenannt wurde, nachdem Lenin im Januar 1924 gestorben war. Die sterblichen Überreste des Revolutionärs wurden einbalsamiert, um in ein Mausoleum nach Moskau überführt zu werden, während Leo Trotzki, die bisherige Nummer zwei in der Parteihierarchie, von der Macht verdrängt wurde. Dieser Übergangsmoment markierte den Bruch zwischen Revolution und konsolidierter Macht der Partei, die schließlich in den Stalinismus mündete.

Revolutionen ändern den Lauf der Geschichte, sie sind in Aktion konvertierte Ideen voller Elan und Dynamik. Sie bilden Denkbilder heraus, Ideen, die sich in Bildern verdichten. So wurde die Französische Revolution ein Revolutionsmodell im 19. Jahrhundert und die Oktoberrevolution bildete ein neues Paradigma für die meisten Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Revolutionen sind gleichermaßen eine Theorie, ein Bericht und ein kollektiver imaginärer Erinnerungsort, der sich in symbolischen Figuren kristallisiert: Die Enthauptung des französischen Königs 1793, die Erstürmung des Winterpalais, Emiliano Zapata auf dem Pferd mit Sombrero, Pistole und Patronengürtel, Trotzki, wie er aus dem Zug spricht, Fidel Castros und Che Guevaras Einzug in Havanna etc. Die Metamorphose der Ideen und Ereignisse zu Symbolen kann widersprüchlich sein - denn der revolutionäre Bildersturm kann der kollektiven Erfahrung die materielle Grundlage entziehen und die Revolution zu einem rein virtuellen Erinnerungsort werden.

Das Ereignis der Revolution ist ein die Kontinuitäten unterbrechender und befreiender Akt, doch seine Symbole gehören einer kollektiven Erinnerung. Werden sie zu Ikonen transformiert, wird das Ereignis von der Gegenwart entfernt. So werden die Symbole zu einem statischen Archiv, bereit, in einem Museum ausgestellt zu werden. Letztlich, so Traverso, drückt die revolutionäre Tradition die Spannung zwischen einem Moment der Selbstbefreiung und ihrer unvermeidlichen Transformation in eine Doktrin und organisierte Aktion aus.

Die Revolution verändert die Sitten, die Bevölkerungen und das Bewusstsein. Wird sie Tradition, zeigt dies, dass ihre Gegenstände noch nicht aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts war es für Millionen von Menschen keine Spinnerei, die Welt zu verändern, sondern im Horizont ihrer Zeit eine mögliche und konkrete Utopie.

Im Epilog stellt Enzo Traverso melancholisch fest, dass das Ende des Realsozialismus auch den häretischen Kommunismus und den demokratischen Sozialismus mit in den Abgrund gerissen hat. Das 21. Jahrhundert müsse neue Utopien und emanzipatorische Vorstellungen hervorbringen mit einer neuen revolutionären Vorstellungswelt, der bisher leider die historische Erinnerung abgehe. Diese wieder lebendig werden zu lassen, ist die Intention seines Buches. Die Aufarbeitung der historischen Erfahrung bedarf neuer Auseinandersetzungen, neuer Praktiken und einer langen Trauerarbeit.

Enzo Traverso: Revolution. An intellectual history. Verso, 480 S., geb., 20,99 €.

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