Mythos Lohn-Preis-Spirale

Wirtschaftswissenschaftlich lässt sich nicht belegen, dass Inflation auf überzogene Tariflohnerhöhungen zurückzuführen ist

Angesichts der anhaltend hohen Teuerungsrate fordern Gewerkschaftsvertreter landauf, landab deutliche Lohnerhöhungen für die Tarifverhandlungen in diesem Jahr. Im krassen Gegensatz dazu tönen Arbeitgebervertreter, es gebe wegen der massiven Energiepreissteigerungen nichts zu verteilen. Ihr Hauptargument ist eine angeblich drohende »Lohn-Preis-Spirale«. Zu hohe Abschlüsse würden die Unternehmen zwingen, wieder ihre Preise anzuheben, wie es beim Mittelstandsverband BVMW heißt. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm stimmt zu: »Die Dynamik für Lohnforderungen dürfte ab dem zweiten Halbjahr 2022 zunehmen. Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale

Doch was ist dran an dem Ansatz, den eine gewisse fachliche Aura umgibt? Tatsächlich hat er Eingang in die volkswirtschaftlichen Standardlexika gefunden: »Als Lohn-Preis-Spirale wird eine Entwicklung bezeichnet, bei der eine über den Produktivitätsfortschritt hinausgehende Erhöhung der Löhne zu steigenden Lohnkosten je Erzeugnis und damit zu steigenden Preisen für die Erzeugnisse führt«, heißt es etwa im »Gabler Kompakt-Lexikon Wirtschaft«. »Diese Entwicklung führt wiederum zu weiteren Lohnforderungen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften.«

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um eine reine Plausibilitätsannahme, die nicht etwa einem wissenschaftlichen Modell entspringt, sondern der wirtschaftspolitischen Debatte der 1970er Jahre. Letztlich drückt der gängige Begriff aus, dass Lohnerhöhungen die Inflation treiben. Doch ökonomisch begründen lässt sich diese Behauptung nicht. Inflation bedeutet deutlich mehr als Preissteigerung, nämlich eine Ausweitung der Geldmenge insgesamt. Und diese wird letztlich von der Zentralbank gesteuert, die auch die Preisentwicklung mit im Blick hat. Das gilt auch für die Europäische Zentralbank (EZB), die zunächst vorsichtig begonnen hat, die Schleusen etwas zu schließen.

Schon theoretisch spricht wenig dafür, doch wie ist es in der Praxis? Für eine Lohn-Preis-Spirale bräuchte es allmächtige Gewerkschaften - die gibt es hierzulande schon deshalb nicht, weil nur noch die Hälfte der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeitet. Unternehmen wiederum können bei starker Konkurrenz Preise nicht beliebig erhöhen. Höhere Lohnkosten ließen sich etwa durch Produktivitätssteigerungen auffangen.

Auch empirisch lässt sich kein direkter Zusammenhang zwischen Lohn- und Preisentwicklung belegen. Der Brite Alban W. Phillips fand in einer 100-jährigen Zeitreihe etwas anderes heraus: Die Inflation ist bei niedriger Arbeitslosigkeit hoch und umgekehrt, wie die 1958 veröffentlichte Philipskurve zeigt. Demnach bräuchte es Vollbeschäftigung, um überzogene Lohnforderungen durchzusetzen, die am Ende die Preise treiben. Bei einer Arbeitslosenquote von aktuell 5,1 Prozent ist man in Deutschland weit weg.

Und so tun sich die Verfechter der Lohn-Preis-Spirale schwer, ein Beispiel anzuführen. Wieder einmal muss die Stagflation der 1970er Jahre herhalten. Im Zuge der Ölpreisschocks hätten höhere Löhne zu Inflation, Konjunkturflaute und hoher Arbeitslosigkeit geführt. Dies sei »ein Mythos«, schreibt Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), in der »Zeit«. Es habe sich um »wirtschaftlich gute Jahre« gehandelt, die auch der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht geschadet hätten. Und gerade für Krisenzeiten wie jetzt gelte: »Ordentliche Lohnsteigerungen« würden sich »gesamtwirtschaftlich stabilisierend auswirken«, sagt nicht nur Fratzscher. Er ärgert sich darüber, dass generell nur über zu hohe Lohnsteigerungen gesprochen werde, nicht aber über zu schwache, die ebenso schädlich für die Wirtschaft sein könnten.

Als verteilungsneutraler Spielraum wird gemeinhin der aktuelle Produktivitätsanstieg plus die Zielinflationsrate der EZB angesehen, was für dieses Jahr ein durchschnittliches Lohnplus von 4,5 bis 5 Prozent bedeuten könnte. Das würde die Teuerung wohl nicht ganz auffangen, aber da in den vergangenen Jahren der Spielraum nicht ausgeschöpft wurde, ließen sich auch höhere Abschlüsse begründen. Der Wirtschaftsweise Achim Truger sieht hingegen den Staat in der Pflicht, die Lücke zu schließen: Durch Entlastungen, die die inflationsbedingten Einkommensverluste teilweise kompensierten, werde »etwas Druck aus den Lohnverhandlungen genommen«. Truger verlangt von der Regierung weitere Entlastungsmaßnahmen. DIW-Chef Fratzscher wiederum hält die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro für »das effektivste und sozialste Instrument«.

Noch etwas spricht gegen die These einer Lohn-Preis-Spirale: Die starke Teuerung beruht aktuell auf einem externen Schock - dem völlig überzogenen Anstieg der Rohstoffpreise vor allem im Energiebereich. Hier regulierend einzugreifen, wäre naheliegend. Dann würde auch das Inflationsgespenst schnell wieder verschwinden.

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