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Wo gestöhnte Comics auf tiefgründige Reportagen treffen

An diesem Wochenende lädt die Comic-Szene zum Comic-Invasion-Festival ins Museum für Kommunikation in Berlin

  • Jens Wiesner
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Keyvisual CIB2022
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Keyvisual CIB2022

Stöhn, ächz, keuch! Was hätte die große Micky-Maus-Übersetzerin Erika Fuchs wohl gesagt, hätte sie geahnt, in welch frivoler Art ihre lautmalerischen Wortschöpfungen in Zukunft verwendet werden? Schuld daran trägt ein Comic-Kollektiv mit dem passenden Namen WEIRD, das am Vorabend des offiziellen Festivalwochenendes zu einer schlüpfrigen Performance lockt: Renommierte Zeichner*innen wie Paul Winck, Noémie Fantôme, Lukasz Majcher, Zora Sauerteig, Sebastian Strombach und Jennifer Wünnecke haben das ach so unschuldige Medium Comic genutzt, um mit »schwarzer Tinte unschuldiges weißes Papier zu besudeln«.

Ja, Sie haben richtig gelesen, werte Leser*innen, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt an diesem Freitagabend, wenn die Gruppe ihre erste »The Porn Comics« betitelte Anthologie im Berliner Wedding live und ungeschnitten selbst vertont. Kostprobe gefällig? Sebastian Strombach schmunzelt: »Der Protagonist meines Comics verirrt sich zu Mauerzeiten in einen Geisterbahnhof, muss für einen Grenzer die Hose runterlassen, eine Kosmonautin kommt dazu, ein Glory Hole ist auch noch mit dabei und dann geht’s richtig ab.« (13. Mai, 18 Uhr, Stettiner Str. 30)

Also ist die CIB (Comic Invasion Berlin) nur ein Ort für Erwachsene, FSK 18? Mitnichten! Kinder können sich an beiden Festivaltagen (14. und 15. Mai, 12 bis 18 Uhr) im Hof des Museums für Kommunikation ihre selbst erfundenen Comic-Figuren von erwachsenen Profizeichner*innen nachzeichnen lassen und dürfen das Ergebnis mit nach Hause nehmen. Wer dagegen seine eigene Piratenwelt mit dem Zeichenstift erschaffen möchte, ist beim mehrsprachigen Workshop des OUSA-Collectives (15. Mai, 14 bis 18 Uhr, Workshopraum) richtig aufgehoben.

Schmuddelkram und Kinderzeug – mit diesem Ruf hatten Comics in Deutschland lange zu kämpfen. Doch spätestens seit das Genre der Comic-Reportage auch hierzulande immer mehr in Fahrt kommt, bleibt zu hoffen, dass dieses Vorurteil bald auch aus den letzten Köpfen verschwindet. Der Journalist Augusto Paim weiß Bescheid, stellt nun nach langen Jahren der Recherche ein Buch vor, das der Vermählung von Zeichnungen und journalistischer Praxis genauer auf den Zahn fühlt und Praxistipps für Recherchemethoden mit dem Zeichenblock gibt (14. Mai, 17 Uhr, Bühne). »Comic-Reportagen sind bestens einsetzbar bei Themen, in denen Erinnerungen an vergangene Ereignisse und deren psychologische Auswirkungen im Mittelpunkt stehen sollen«, beschreibt Paim die Vorteile gegenüber klassischen Reportageformen.

Die angewandte Praxis zeigt dann einen Tag später (15. Mai, 16 Uhr, Bühne) die russische grafische Reporterin und Aktivistin Victoria Lomasko, mit deren Beitrag das Festival traurige Aktualität gewinnt. Lomasko, die zu Beginn des Ukraine-Krieges aus Moskau fliehen musste, hat mit der Bildreportage »Verbotene Kunst« 2013 eine der ersten und bekanntesten Graphic Novels in Russland publiziert, zuletzt ist 2017 ihr Band »Other Russias« erschienen, in denen sie all jenen andersdenkenden und unterdrückten Stimmen in Russland ihre Stimme zurückgeben will. Auf dem Festival wird sie ihre neuesten Arbeiten von 2020 bis 2022 vorstellen und einen persönlichen Einblick in ihr Russland vor Beginn des Krieges geben.

Zur Sprache kommen dürfte dabei auch die Tatsache, dass ursprünglich ein Russland-Schwerpunkt für die diesjährige CIB vorgesehen war, aber mit Blick auf die aktuellen Ereignisse abgesagt wurde – eine Entscheidung, die dem Organisationsteam nicht leichtgefallen ist. »Wir hatten bereits richtig viele Sachen eingetütet und natürlich auch putinkritische Leute angefragt«, erklärt Festivalleiterin Lara Keilbart. »Für die wurde es natürlich immer gefährlicher, auf einer offiziellen Veranstaltung aufzutauchen, oder sie konnten das Land schon gar nicht mehr verlassen.« Stattdessen soll es nun im Herbst zusätzliche Veranstaltungen wie Live-Online-Gespräche zum Thema Russland und Ukraine geben, verspricht Keilbart – in der Hoffnung, die Geschehnisse dann mit etwas Abstand künstlerisch verarbeiten zu können.

Aber was wäre ein Comic-Festival ohne persönliche Begegnungen und Comics, die es zu durchstöbern und zu kaufen gibt? Neben zahlreichen Zeichner*innen, die mit eigenen Ausstellertischen vertreten sind, werden auch in diesem Jahr wieder die Projekte der fünf Gewinner*innen des Berliner Comic-Stipendiums (Sarnath Banerjee, Julia Beutling, Gregor Dashuber, Everett Glenn und Kai Pfeiffer) vorgestellt. Um sich deren Werke in Ruhe ansehen zu können, besteht allerdings auch über das Festivalende hinaus noch Zeit (bis zum 30. Oktober).

Weil sich das Stipendium eher an bereits etablierte Zeichner*innen richtet und deren Gewinner*innen ja bereits feststehen, dürfte der spannendste Teil des Festivals damit die Preisverleihung des Comic-Wettbewerbs am 15. Mai (12 Uhr, Bühne) werden. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene waren dazu aufgerufen, in einem bis zu zweiseitigen Comic diversen Märchenwelten in der Hauptstadt nachzuspüren.

»Mit rund 300 Einsendungen war die Beteiligung diesmal in allen Altersklassen so hoch wie nie zuvor«, berichtet Wettbewerbskoordinatorin Karin Frey. »Es ist eine Riesenarbeit, so einen Comic zu erstellen, und dass dann auch noch die Qualität der Einsendungen ständig gestiegen ist, freut mich wirklich ungemein.« Die Arbeiten der Preisträger*innen werden übrigens nicht nur ausgestellt, sondern auch als Buch veröffentlicht und bieten somit eine spannende Vorausschau auf das, was uns in der Berliner Comic-Szene in den nächsten Dekaden noch erwarten wird. Oder, um es mit den Worten der großen Erika Fuchs zusammenzufassen: Strahl, freu, grins!

Weitere Infos unter: https://comicinvasion.de/

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