• Kultur
  • Serie "Becoming Charlie"

Bitterarm und nonbinär

Das sechsteilige Drama »Becoming Charlie« verlegt queere Selbstermächtigung ins Offenbacher Plattenbau-Ghetto

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Charlie (Lea Drinda, l.) und Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal, r.)
Charlie (Lea Drinda, l.) und Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal, r.)

Was Lieferdienste Städten, Klima, Umwelt, vor allem aber den Menschen, die das kapitalistische Ausbeutungssystem versklavt, so alles antun, ist bereits Gegenstand lebhafter Debatten. Es lässt sich aber auch in einer kleinen Szene einer großen Serie beim Nischensender Neo zusammenfassen: Da ihr Fahrrad zerstört wurde, ist Lebensmittelkurier Charlie ein paar Stunden immobil – ein paar Stunden zu viel für den Arbeitgeber, der optisch an Lieferando erinnert und innerlich so verkommen ist, dass er Charlie per Voicemail kündigt.

Bringen sie bitte ihre Arbeitskleidung zurück. Schriftliche Kündigung folgt. Ende der Durchsage. Ende der Sorgen? Leider nein. Denn Charlie, 21, lebt nicht nur mangelernährt und perspektivlos in einer Plattenbauwohnung im Offenbacher Brennpunkt, sondern das Amt hat wegen unbezahlter Rechnungen den Strom abgedreht. Dazu kommt, dass Charlie auch noch im falsch gelesenen Körper lebt. Charlie ist nonbinär. Als Frau geboren, lehnt Charlie dieses biologische Geschlecht ab, möchte aber auch kein Mann sein. Schwierig in einem Land, das sogar Mineralwasser in der »Mädchenfarbe« rosa verkauft.

Noch schwieriger jedoch wird es mit einer bipolaren Mutter, die trotz Schulden nicht nur ständig im Kaufrausch endet, sondern ihrer geschlechtlich indifferenten Tochter auch noch »du hast doch so schöne Brüste« hinterherheult, bevor die sich selbige mit Cellophan abbindet. »Becoming Charlie« zeigt, wie kompliziert es ist, Geschlechteridentitäten abseits derjenigen im Pass zu gestalten. Ob Charlie nun maskulin oder feminin, alles ein bisschen oder nichts von beidem ist, bleibt daher von der ersten bis zur 100 Minute dieser sechsteiligen Persönlichkeitsstudie nebulös.

Was von der ersten Sekunde an klar wird: mit dieser Instant-Dramaserie gelingt ZDFneo etwas, das es hierzulande nur selten gibt: Eine Transgender-Fiktion, die alle denkbaren Klischees mit glaubhafter Dringlichkeit kontert. Besonders Lea Drinda spielt die Zerrissenheit ihrer Titelfigur dabei, als wäre sie Charlie persönlich – und steht so in der Tradition weiser junger Überzeugungstäter wie Jannis Niewöhner, die sich für Filme bis zur Selbstauflösung verausgaben.

Anderthalb Jahre nach ihrem Durchbruch als eines der süchtigen »Kinder vom Bahnhof Zoo« schreddert Drinda also erneut bürgerliche Vorstellungen von Menschen abseits heteronormativer Werte. Ihr Kampf gegen überkommene Weiblichkeitsbilder jedoch macht sie nur ab und zu mal zur »Butch« genannten Lesbe mit maskulinem Habitus. Viel öfter noch ist Charlie unsicher, scheu, verzagt und erfüllt damit viele Erwartungen, die Außenstehende an zierliche, dünne, blonde Frauen wie sie oft hegen.

Wenn der Ghetto-Proll (Rouven Israel) mit seiner hochschwangeren Freundin (Aiken-Stretje Andresen) und dem hochtourigen Auto (BMW) prahlt, verfällt Drindas Serienfigur in Mackergehabe. Wenn sie mit ihrer strengen Tante Fabia (Katja Bürkle) zu tun hat oder der süßen Nachbarin Ronja (Sira Anna Faal), verfällt Charlie hingegen in weibliche Rollenmuster. Zwischendurch mögen zwar Verzweiflung und Jähzorn die Oberhand gewinnen. Aber sobald sie im Kreis ihrer Kumpels Niko (Danilo Kamperidis) und Mirko (Antonije Stankovic) gegen die Verhältnisse antanzt, glätten Trost und Erlösung die Zornesfalten über Drindas Rehaugen.

Dieser plakative Kontrast könnte den Sehgewohnheiten deutscher Fernsehzuschauer geschuldet sein, die auch im Unglück Hoffnung suchen – idealerweise verkörpert von einer bildhübschen Frau weit oben auf der Besetzungsliste. Glaubhaft wird sie aber schon, weil Lion Laus Drehbücher die eigene Entwicklung als nonbinäre Person zwischen Leipzig und Lausitz biografisch widerspiegeln, was ein vorwiegend weibliches Team um die Regisseurinnen Kerstin Polte und Greta Benkelmann mit viel Empathie in Szene setzt.

Gelegentlich würde der Serie etwas Distanz zum Personal guttun. Das Übermaß an Diversität auf engstem Raum eines habituell rückständigen Großstadtbrennpunktes, an dem irgendwie alle Hauptfiguren anders lieben, scheint eher Wunsch als Wirklichkeit feministischer Filmemacher zu sein. Und manchmal geht einem die unterdrückte Aggressivität der Titelheldin auch auf den Wecker. Doch darüber hinaus weicht »Becoming Charlie« angenehm vielfältig vom LGBTQI+-Umfeld anderer Fiktionen ab, das überwiegend kultivierte, gut situierte, durchaus diskriminierte, dabei aber lässige Großstadttypen aufbietet. Nonbinär im Wohnsilo? Das ist neu. Und es ist gut.

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