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Reisen nur für Reiche
Steffen Mau definiert die Grenzen im 21. Jahrhundert als »Sortiermaschinen«
Als die Berliner Mauer fiel, glaubten sich viele Menschen in der DDR ihren Träumen ganz nah: für ihre Arbeit richtiges West-Geld bekommen, einkaufen, was das Herz begehrt und vor allem reisen. Hatten die Verwandten »von drüben« doch immer schon geprahlt, wie sie durch die Welt gekommen waren. Nun würde diese bunte Welt auch ihnen offenstehen.
Das tat sie, wenn man nicht gerade den Arbeitsplatz verloren hatte – vielen ging es so – und mit dem Geld knausern musste. Nun, bis Mallorca reichte es. Einen bundesdeutschen Pass in der Tasche zu haben, war und ist unbestreitbar ein Vorteil. Visafrei sind viele Länder, die auf Touristen hoffen, andere fordern ein Visum, das man aber bekommt, wenn man bürokratische Hürden überwindet und zahlt. Bei der Wiedereinreise wird zwischen Reisenden aus dem Schengen-Raum und »Anderen« getrennt. So peinlich man das finden mag, man ist auf der Seite der Privilegierten.
»Sortiermaschinen« hat der Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau sein Buch genannt, das im C.H. Beck Verlag erschienen ist. In einem Forschungsprojekt hat er »die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert« untersucht. Neuerfindung? Grenzen gab es doch schon immer, und viele von ihnen waren umkämpft. Gleichzeitig aber wurde im Westen der kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt gehegt und gepflegt. »Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein«, sang Reinhard Mey. Ja, über den Wolken ist sie es wohl. Aber auf Erden, das musste doch jeder wissen, war sie es nicht.
Mit dem Sturz der Berliner Mauer, auf die vorher schon fröhliche Leute hinaufgeklettert waren, schien ein neues Zeitalter begonnen zu haben. »I’ve been looking for freedom«, sang David Hasselhoff in der Silvesternacht 1989/90 dort, wo einst die streng bewachte Staatsgrenze war. Und das klang weit hinüber nach Osten, wo Millionen Menschen sich diesen Traum ebenfalls erfüllen wollten und entsprechend wählten, sodass sie in die EU und in die NATO kamen.
Das Buch von Steffen Mau beginnt mit dramatischen Bildern von der türkisch-griechischen Grenze im Frühjahr 2020. Busse, die Tausende Geflüchtete aus der Türkei zur Grenze brachten, wo die griechischen Sicherheitskräfte hektisch Betonsperren aufstellten, Stacheldraht ausrollten, »aufflackernde Blendgranaten, dazu mannshohe Hochleistungsventilatoren, die Tränengaswolken auf die türkische Seite hinüberbliesen.« Ich erschrecke, weil ich das nicht mehr in Erinnerung habe, während sich mir wohl für immer eingeprägt hat, wie im November 2021 an der belarussisch-polnischen Grenze ähnliches geschah. Menschen, die in der Kälte kampierten, nachdem sie einen langen beschwerlichen Weg vor die Tore der EU zurückgelegt hatten – sie wollten doch nicht nach Polen, sondern nach Deutschland, das irgendwie wohl den Ruf eines Wunderlands genießt.
Der Konflikt eskalierte, nur ganz wenige gelangten auf polnische Seite und kamen wohl nicht weiter. Krisenmanagement, Erfolgsmeldungen: Irakische Flugzeuge brachten viele der Flüchtenden zurück. Wohin? Hatten sie ihre Häuser noch? Besaßen sie noch Ersparnisse oder waren diese für Visa und Transportkosten draufgegangen? Waren sie wirklich weg? Andere osteuropäische Länder begannen nun ebenfalls mit dem Bau von Befestigungen.
Für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine – Frauen und Kinder, den die Männer wurden nicht außer Landes gelassen – öffneten sich die Grenzen nach Westen wie nach Osten. Die größte Flüchtlingswelle seit 1945: Hier wurde Europa seiner humanen Verpflichtung gerecht, in einem bisher nie dagewesenen Maße Menschen aufzunehmen, die als anerkannte Kriegsflüchtlinge keinen Asylantrag zu stellen brauchten und sofort eine Arbeitserlaubnis erhielten.
»An Grenzen finden einschneidende Prozesse der sozialen Teilung statt«, schreibt Steffen Mau und widerspricht damit verbreiteten Vorstellungen, dass Grenzen durch die Globalisierung überflüssig würden. Im Gegenteil: Grenzbefestigungen und Grenzkontrolle sind Teil der Globalisierung. Seit der Jahrtausendwende sei die Zahl der »fortifizierten Grenzen« rasant angestiegen. Eine Studie spricht von 45 Grenzmauern und 56 gesicherten Grenzzäunen weltweit. Der nationale Mauerbau sei ein globales Geschäftsfeld geworden, die lebensgefährlichen Mauergrenzen ein westlicher Exportschlager. Man erinnere sich an das Geschrei bezüglich der Berliner Mauer. Dagegen ging die Zahl von Getöteten an internationalen Grenzen innerhalb einer Dekade in die Zehntausende.
Grenzen hätten die Funktion, Gesellschaften im Inneren zu homogenisieren, heißt es im Buch. »Mauergrenzen sind oft Wohlstandsgrenzen.« Im Klartext bedeutet das: Reichere Staaten schirmen sich gegenüber ärmeren ab, um nichts an sie bzw. deren Bürger abgeben zu müssen. Das geschieht, wie wir beobachten, wohl umso vehementer, je krisenhafter die Verhältnisse im Inneren sind. Steffen Mau stellt fest dass autokratisch regierte Länder »oftmals Grenzverstärker« sind, weil die Grenze »zum Bestandteil polizeilich-militärischer Selbstbehauptungsstrategie gemacht wird«. Eine »Atmosphäre der Gefährdung« kann von bestimmten politischen Kräften zur »Mobilisierung der eigenen Anhänger« genutzt werden. Durch ein theatralisches »Grenzspektakel« könnten Staaten ihre eigentlichen Kontrollverluste kaschieren. Und Zustimmung erlangen zu Maßnahmen, die eigene Bevölkerung zu kontrollieren, sei hinzugefügt..
Erschreckende Tatsachen: Mehr als 10 Millionen Menschen leben in Flüchtlingslagern: »burmesische Flüchtlinge in Thailand und Bangladesch, Menschen aus Venezuela in Kolumbien, Syrer in der Türkei, Somalis in Kenia, Afrikaner in Ceuta. Die politische und humanitäre Katastrophe des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos hat einer lange wegschauenden europäischen Öffentlichkeit vor Augen geführt, was an den Rändern der EU zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen geworden ist«: der verzweifelte und kräftezehrende Kampf ums Ankommen und Überleben.
Bei der Zuwanderung erfreuen sich Punktesysteme in der westlichen Welt wachsender Beliebtheit. Je jünger jemand ist, je qualifizierter umso besser. Auch Berufserfahrungen und Sprachkenntnisse fließen in die Bewertung ein, ob jemand für den heimischen Arbeitsmarkt taugt oder nicht. Wer genügend Geld hat, kann sich auch eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung beschaffen oder sogar einen »Goldenen Pass«, indem man sich für Millionen eine Staatsangehörigkeit kauft. Umgekehrt müssen in den Botschaften der Schengen-Länder Kontoauszüge, Kreditkartenbelege, Arbeitsbescheinigungen, Steuerselbstauskünfte und Gehaltsbescheinigungen eingereicht werden, um ein Visum zu erhalten. Eine erniedrigende Prozedur. »Je ärmer das Herkunftsland, desto teurer das Visum.«
Ein ganzes Kapitel dient den sogenannten »Smart Borders« , den digitalen Technologien zur Überwachung von und Kontrolle an den Grenzen. »Wenn die Grenze zielgenau filtert, dann erscheint sie für den mobiler werdenden Teil der Erdbevölkerung offen«, schreibt Steffen Mau, während sie vom anderen Teil als umso beschränkender wahrgenommen wird. Generell ist es in wohlhabenden Ländern ein Trend geworden, Grenzen sozusagen vorzuverlagern, andere Staaten gegen Zahlung dazu zu bewegen, Flüchtende aufzuhalten, möglichst schon im Herkunftsland. Das beginnt mit der Visavergabe und der Einbindung von Transportunternehmen und reicht bis zu Rücknahmeabkommen, von denen die EU heute bereits sage und schreibe 300 mit verschiedenen Staaten geschlossen hat. »Geld gegen Migrationsverhinderung« heißt der Deal, mit dem man sich aus der Verpflichtung herauswindet, dem eigenen liberalen Ethos zu entsprechen.
Am bequemsten wäre es ja die reicheren Länder, Flüchtlinge überhaupt daran zu hindern, sich auf den Weg zu machen. Sicher würden viele bleiben, wo sie sind, wenn das Leben dort besser und sicher wäre. Sie würden sich nicht von ihren Familien trennen mit dem Versprechen, sie nachzuholen. Aber das würde einer völlig anderen Politik gegenüber den armen Ländern bedürfen, die oft genug in westlichem geopolitischen Interesse mit Krieg überzogen und in ihrer inneren Struktur destabilisiert worden sind.
Es ist dies ein sachliches Buch voller interessanter Fakten, die viele verdrängen oder gar nicht kennen. Aber dass es da eine Schuld gibt gegenüber Menschen aus Kriegs- und Armutsregionen, das weiß eigentlich jeder. Umso größer nicht selten die Abwehrbereitschaft. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« – wie mag das wohl aussehen, wenn es , wie in der »Internationale« besungen, wirklich geschähe?
Steffen Mau: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, 189 S., br., 14,95 €.
Literatursalon am 1. Juni, Irmtraud Gutschke im Gespräch mit Steffen Mau, 18 Uhr, Franz-Mehring-Pl. 1, 10245 Berlin.
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