Auf der Couch alleingelassen

Mehr Kinder essen Ungesundes und bewegen sich zu wenig – Experten wollen Werbeverbote

Auch die Kleinsten waren in der Pandemie häufiger am digitalen Endgerät.
Auch die Kleinsten waren in der Pandemie häufiger am digitalen Endgerät.

Jedes sechste Kind in Deutschland ist seit Beginn der Corona-Pandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren – das zeigt eine repräsentative Umfrage unter Eltern. Sie wurde in Auftrag gegeben von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und dem Else-Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München. Die am Dienstag vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass sich in zwei Pandemie-Jahren die genannten Entwicklungen nicht nur verstetigt, sondern noch verstärkt haben.

Schon zuvor hatten etwa Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren in Deutschland doppelt so viel ungesunde Lebensmittel gegessen, wie nach Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation noch akzeptabel wäre, aber nur die halbe Menge der empfohlenen Lebensmittel. Auch in Sachen Bewegung wurde schon vor zwei Jahren das empfohlene Pensum nicht erreicht.

Mit der Pandemie setzten repräsentative Untersuchungen durch medizinisches Personal aus: Etwa das Körpergewicht von Kindern wurde nicht mehr systematisch erfasst. So stammen die Hinweise auf den Trend zu weniger Bewegung und zu mehr Pfunden aus Umfragen. Für die aktuelle Erhebung wurden mehr als 1000 Eltern von Kindern zwischen 3 und 17 Jahren befragt. Dabei hatte von den Erwachsenen jeweils ein Drittel fast die gesamte Pandemiezeit im Homeoffice verbracht, ein weiteres Drittel zeitweise. Die dritte Gruppe hatte keine Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten – das betraf mehr als die Hälfte der Haushalte, deren Nettoeinkommen unter 3000 Euro lag.

70 Prozent der Kinder nutzten nach Elternangaben in ihrer Freizeit Medien (vom Fernseher über den PC bis zum Smartphone) mehr als vor der Pandemie. Das trifft sogar für über die Hälfte der Drei- bis Fünfjährigen zu. Mit dem gewachsenen Medienkonsum einher geht eine wachsende Belastung der seelischen Stabilität: Das zeigte sich nach Beobachtung der Eltern bei 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen.

16 Prozent der Mädchen und Jungen sind dicker geworden, 7 Prozent verloren Gewicht. Unter den Heranwachsenden im Alter von zehn bis zwölf Jahren nahmen sogar 32 Prozent zu. Besonders schlecht war die Pandemie für Kinder, die schon vorher Übergewicht hatten. 31 Prozent von ihnen ernährten sich nun noch weniger gesund. Doppelt so häufig betroffen von einer schädlichen Gewichtszunahme ist zudem der Nachwuchs einkommensschwacher Familien im Vergleich mit Kindern aus Haushalten mit höheren Einkommen. »Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmierend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthochdruck, einer Fettleber und Diabetes führen«, kommentiert Susann Weihrauch-Blüher die Ergebnisse. Die Oberärztin an der Universitätsklinik Halle/Saale ist zugleich Sprecherin einer Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter bei der DAG.

Keine Überraschung in diesem Zusammenhang ist, dass sich 44 Prozent der Kinder in der Pandemie weniger bewegten. Wieder sticht hier die Altersgruppe der Zehn- bis Zwölfjährigen heraus, unter ihnen blieben sogar 57 Prozent lieber auf der Couch. Zu den Ursachen für die Abweichungen gibt es erst Vermutungen: »Diese Kinder entziehen sich langsam dem Einfluss der Eltern, sie werden autonomer in ihren Entscheidungen, sie stehen am Beginn der Pubertät.« Diese Faktoren könnten sie gesundheitlich vulnerabler machen, nimmt Weihrauch-Blüher an.

Es gibt nur wenige Ergebnisse der Pandemie, die in dem Bereich als Fortschritt gewertet werden können: So aßen 34 Prozent der Familien häufiger gemeinsam als zuvor, 30 Prozent trafen sich häufiger beim Kochen und Zubereiten der Mahlzeiten. Außerdem wurden nicht nur mehr Süßigkeiten und mehr Knabberartikel verzehrt, sondern auf Platz drei der Rangliste stand Obst. Insgesamt können aber auch diese Fakten wenig trösten, weil der Vorteil bei den Familien lag, deren Eltern im Homeoffice arbeiten konnten.

Unter dem Strich sehen die Experten massive Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit der Heranwachsenden. Sie wollen es nicht dabei belassen, Eltern aufzufordern, aus dem Corona-Trott herauszukommen – auch wenn sie die wichtigsten Vorbilder sind und am ehesten den Ernst der Lage einschätzen können. Kinder- und Jugendärzte sind danach die ersten Ansprechpartner, wenn interveniert werden sollte. Andererseits ist für Kinder mit Adipositas (ebenso wie für Erwachsene) die Versorgung »absolut defizitär«, kritisiert die Medizinerin Weihrauch-Blüher. Jedes Ernährungs- oder Bewegungsprogramm muss bei der Krankenkasse beantragt werden.

Um so dringlicher sind Forderungen an die Politik, endlich Rahmenbedingungen zu ändern. Die DAG fordert, übereinstimmend mit der Verbraucherorganisation Foodwatch und anderen Organisationen, Werbeverbote, eine Mehrwertsteuer-Befreiung für Obst und Gemüse sowie eine Besteuerung von zuckerhaltigen Getränken.

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