- Politik
- Streik-Ergebnisse
Palliativmittel im Kapitalismus
Die Ergebnisse eines Streiks ändern nichts an den grundsätzlichen Ausbeutungsursachen des Lohnsystems
Der Arbeitskampf hat in einer widersprüchlichen kapitalistischen Ordnung eine entscheidende Voraussetzung: Die von den Kapitaleignern abhängig Beschäftigten müssen erkennen und ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie nur in einer Koalition, in einem gewerkschaftlichen Zusammenschluss, ihrer individuellen Unterlegenheit gegenüber den Kapitalisten etwas entgegensetzen können. Denn nur mit der Möglichkeit einer kollektiven (solidarischen) Verweigerung von Arbeit, mit Streik (aus dem Englischen »to strike work« – »die Arbeit hinschmeißen«) ist eine wirksame gewerkschaftliche Interessenvertretung gegenüber dem Kapital überhaupt möglich. Die wichtige solidarische Macht von Arbeitern beschreibt hier schon das 1863 von Georg Herwegh verfasste Gedicht und Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. »Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!«
Das wissen natürlich auch alle Kapitaleigner und deren Helfer in Politik, Wissenschaft und Medien und daher ist für sie auch jeder Streik ein Streik zu viel. So spekulierte 2003 der jetzige CDU-Vorsitzende und schon damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Friedrich Merz, sogar ernsthaft über die Abschaffung des Streikrechts und bekam u. a. von der hilfswilligen Juristin Gisela Wild wohlwollende Unterstützung. »Was gibt den Gewerkschaften ihre Macht, obschon nur noch um die 20 Prozent der Beschäftigten bei ihnen Mitglied sind? Es ist vor allem die Drohung mit Streik. Die Zeit ist reif, diesen Schrecken zu bannen und die Rechtsgrundlagen des Streiks in Frage zu stellen, auch wenn die Gewerkschaften aufheulen mögen.«
Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt.
Klima, Krankenhäuser, Milchpreise: Ständig wird gegen oder für irgendwas gestreikt. Sogar in Deutschland und im Rest der Welt sowieso. Aber mit welchem Effekt? Geht es wirklich noch darum, dass starke Arme etwas zum Stillstand bringen? Und wenn ja, bewirkt es messbare Erfolge? Streik hat als Protest-und Kampfmittel auch historisch immer wieder unterschiedliche Formen angenommen. Was sich daraus lernen lässt, werden wir in der Juni-Ausgabe beleuchten. Die OXI-Ausgabe kommt am 10. Juni zu den Abonnent*innen und am 11. Juni liegt sie für alle, die ein »nd-DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.
Lesen Sie auch: Gewerkschaftserfolge machen Schule: Arbeitskampf bringt höhere Löhne und bessere Sozialstandards bei vier Supermarktketten in den USA
Jeder Streik kostet den Kapitalisten schlicht Mehrwertproduktion und damit Ausbeutung der Arbeitskräfte. Aber auch die Streikenden müssen Einkommensverluste hinnehmen und jeder Streik hat mittelbare Auswirkungen. Streiken die Lokführer, warten die Zugreisenden am Bahnhof und streikt das Krankenhauspersonal, warten die Patienten. Auch Lieferketten im industriellen Produktionsprozess können durch Streikmaßnahmen empfindlich und mit hohen volkswirtschaftlichen Schäden unterbrochen werden. Dies alles aber nur, wenn auch länger und nicht nur kurzfristig die Arbeit verweigert wird.
Es hat lange gedauert, bis sich in Deutschland (Sachsen (1861) und Norddeutscher Bund (1865)) nach Abschaffung des Koalitionsverbots im 19. Jahrhundert überhaupt Gewerkschaften gründen konnten und so eine Gegenmacht zum Kapital entstand. Die erste war dabei 1865 der Allgemeine Zigarrenarbeiter-Verein. Der ehemalige Hochschullehrer für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht sowie langjährige Justiziar der IG Metall, Michael Kittner, hat die lange Geschichte des Streiks in seinem Buch »Arbeitskampf, Geschichte, Recht, Gegenwart« aufgeschrieben. Der Befund ist allerdings ernüchternd, aber auch nicht überraschend: »Frieden im Kapitalismus mit den arbeitenden Menschen gibt es nicht.« Es bleiben am Ende vom Kapital ausgebeutete Lohnabhängige zurück. Deshalb müssen Kapitalisten und ihre Claqueure eigentlich auch nicht nervös werden. Der herausragende liberale Ökonom Adam Smith hat ihnen schon 1776 in seinem epochalen Werk »Der Wohlstand der Nationen« gesagt, wer am Ende den Arbeitskampf immer gewinnt. »Es lässt sich leicht vorhersehen, welche der beiden Parteien unter normalen Umständen einen Vorteil in dem Konflikt haben muss und die andere zur Einwilligung in ihre Bedingungen zwingen wird. Die Unternehmer, der Zahl nach weniger, können sich viel leichter zusammenschließen. […] In allen Lohnkonflikten können zudem die Unternehmer viel länger durchhalten. Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Handwerksmeister, ein Fabrikant oder ein Kaufmann, ein jeder von ihnen könnte, selbst wenn er keinen einzigen Arbeiter beschäftigt, ohne Weiteres ein oder zwei Jahre vom bereits ersparten Vermögen leben. Dagegen könnten viele Arbeiter ohne Beschäftigung nicht einmal eine Woche, wenige einen Monat und kaum ein ganzes Jahr überstehen. Für längere Zeit mag zwar der Unternehmer genauso auf den Arbeiter angewiesen sein wie umgekehrt dieser auf ihn, für kurze Zeit ist er es aber nicht.«
Zu einem ähnlich deprimierenden Befund kam Karl Marx, wenn es um den Arbeitskampf geht. »Gleichzeitig und ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, die das Lohnsystem einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren.«
Marx und auch Friedrich Engels sahen die Bedeutung von Gewerkschaften und Streik allerdings nicht nur in Bezug auf Arbeitsbedingungen und die Lohn- und Arbeitszeitfrage, sondern auch vor allen Dingen in ihrer politischen Rolle als »Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals«. Dazu führte Marx 1853 aus: »Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen, sondern müssen vor allen Dingen ihre moralischen und politischen Auswirkungen im Auge behalten. […] Ohne ständigen Kampf zwischen Fabrikanten und Arbeitern, der in genauer Übereinstimmung mit jenen Schwankungen in den Löhnen und Profiten verläuft, würde die Arbeiterklasse Großbritanniens und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige Masse sein, deren Emanzipation aus eigner Kraft sich als ebenso unmöglich erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und Roms.«
Und heute? Wo ist das politische Bewusstsein der abhängig Beschäftigten in einem hochentwickelten und konzentrierten sowie gleichzeitig globalen und finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit stark zunehmenden digitalen Zügen noch zu finden? Das Bewusstsein ist bei den meisten Beschäftigten schlicht nicht (mehr) da. Sie sind in den letzten dreißig bis vierzig Jahren durch das von den Herrschenden in Politik und Wirtschaft gewollte und durchgesetzte neoliberale (marktradikale) Paradigma, durch einen Shareholder-Kapitalismus entsolidarisiert bzw. individualisiert worden. Hier ist der arbeitende Mensch nur noch eine »Restgröße«. Helmut Kohls 1982 im Bundestag ausgerufene »geistig-moralische Wende« und die Forderung des Bundespräsidenten Roman Herzog, es müsse ein »Ruck durch Deutschland« gehen, haben hier nicht nur in der Ökonomie tiefe neoliberale, negative Spuren hinterlassen, sondern auch in der gesamten Gesellschaft. Mit der marktradikalen »Wendepolitik« einher ging ein massiver politischer Angriff auf die Gewerkschaften und den Sozialstaat.
Das Kapital konzentrierte und zentralisierte sich immer mehr. Die Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft machten diesen Prozess zur Absicherung von Kapitalinteressen und maximaler Profite notwendig. Hinzu kamen neue Finanzmarkt-Kapitalisten wie Blackrock & Co sowie Private-Equity-Investoren und Hedgefonds. Man kann hier empirisch zeigen, dass allein die Ankündigung des Europäischen Binnenmarkts eine riesige Fusionswelle allein in Deutschland ausgelöst hat. Immer mehr transnational aufgestellte Konzerne, die höchste Form der Wirtschaftskonzentration, entstanden.
Die Beschäftigten sind dabei die Verlierer. Kapitaleigner und ihre Manager:innen können die abhängigen und machtlosen Beschäftigten jederzeit gegeneinander ausspielen, wenn es um Arbeitsentgelte, Arbeitsplätze und Investitionen zum Erhalt der Unternehmen und ihrer Standorte weltweit geht. Jede angebliche Solidarität der Konzern-Beschäftigten und der »Mitbestimmungsgremien« untereinander ist hier nicht einmal mehr ein Lippenbekenntnis. Der Europäische Betriebsrat hat nichts zu sagen und tut sich schon schwer, überhaupt an wirtschaftliche Konzerndaten zu kommen. Das ökonomische Wissen geht hier in der Regel gegen null. Und auch auf nationaler deutscher Ebene gibt es unter den Beschäftigten und Betriebsräten in den Konzernen, Unternehmen und Betrieben keine Solidarität. Wird ein Betrieb in einem Unternehmen oder ein Unternehmen im Konzern geschlossen, schauen die anderen tatenlos zu und »freuen« sich, dass der Kelch an ihnen vorübergegangen ist. Natürlich hat das Ganze auch was mit einer fehlenden Mitbestimmung zu tun. In Deutschland gibt es zwar zwei betriebliche und drei unternehmensbezogene Mitbestimmungsgesetze. Bis auf das Montan-Mitbestimmungsgesetz (dies gilt aber nur noch für 0,2 Prozent aller Beschäftigten) impliziert jedoch keines der Gesetze eine paritätische Mitbestimmung zwischen Kapital und Arbeit. Deshalb kann man nicht von Mitbestimmung sprechen, sondern nur von einer Mystifikation.
Die Solidarität der abhängig Beschäftigten hat aber auch ein immanentes Problem: Die vielfältig anzutreffende Heterogenität von Arbeit und auch ihre organisatorische Hierarchie in den Unternehmen, und ebenso zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftszweigen, entsolidarisieren die arbeitenden Menschen. So liegt traditionell der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei den außertariflichen und leitenden Angestellten fast bei null, und die Gewerkschaften haben es auch nie geschafft, einen Großteil der Ingenieure zu gewinnen, die für technische Veränderungen stehen. Und warum sollen sich Beschäftigte und ihr Betriebsrat eines Automobilkonzerns mit den Beschäftigten und Betriebsräten eines Zulieferers solidarisieren, wenn das Management des Automobilkonzerns Nachfragemachtmissbrauch betreibt und vom Zulieferer niedrigste Preise zu maximalen Mengen mit höchster Produktqualität verlangt? Schließlich profitieren irgendwie auch die Beschäftigten beispielsweise durch die hohen Prämienzahlungen der Autokonzerne am Ende des Geschäftsjahres. Das sind dann beispielsweise bei Porsche schon mal 8.000 Euro pro Beschäftigtem.
Natürlich hat auch die chronische hohe Arbeitslosigkeit ihren Anteil an der Entsolidarisierung. Und zur Schwächung der Beschäftigtenkoalition hat ebenso massiv die Prekarisierung von Arbeit beigetragen. Jeder fünfte Beschäftigte ist hier in Deutschland im Prekariat gelandet. Dass die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen vielfach nicht einmal mehr einen Inflationsausgleich durchsetzen konnten, ganz zu schweigen von einer Produktivitätspartizipation, hat schließlich mit dazu geführt, dass heute nur jeder siebte abhängig Beschäftigte in einer der acht DGB-Gewerkschaften organisiert ist. Die Tarifbindung liegt gerade mal noch bei fünfzig Prozent und viele betriebsratslose Betriebe zeigen eine weitere bittere Wahrheit. Man beobachtet das Tarifgeschehen, wobei viele Beschäftigte eine kontraproduktive »Trittbrettfahrer-Mentalität« an den Tag legen. Warum soll ich mich mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft an dem Zustandekommen des kollektiven Tarifvertrages ohne Ausschlussprinzip beteiligen, wenn ich auch ohne dieses Engagement das Ergebnis des (nur schlechten) Tarifabschlusses erhalte? Darunter leidet auch die Streikbereitschaft. Im letzten Jahr waren es gerade mal 18 Streiktage auf 1.000 Beschäftigte und in den Jahren zuvor im Durchschnitt auch nicht mehr. Hinzu kommt, dass Gewerkschaften fast nur noch zu kurzen Stundenstreiks aufrufen und offensichtlich einen richtigen Streik per Urabstimmung scheuen, denn der könnte in Anbetracht von dann zu zahlenden Streikgeldern teuer werden und womöglich nicht mehr finanzierbar sein.
Nicht zuletzt bildet auch das herrschende Recht Streikrestriktionen. Zwar billigt das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Anbetracht der Tarifautonomie im Grundgesetz (Art. 9 (3) GG) den gewerkschaftlichen Streik. Betriebsräte dürfen hier gemäß §74 (2) Betriebsverfassungsgesetz nicht streiken. Aber das Recht gesteht den Unternehmern auch die Aussperrung von Beschäftigten zu. Für das BAG ist dies eine notwendige »Kampfparität«. Dass das höchste Arbeitsgericht hier von einer Herstellung »gleicher Verhandlungschancen« spricht bzw. diese einfordert, zeugt aber entweder von einer völligen Negierung wirtschaftlicher Realitäten (hier sei dem Gericht zur Lektüre Adam Smith empfohlen) und/oder von einer einseitigen Vertretung von Kapitalinteressen. In diesem Kontext ist wohl auch das 1995 vom Bundesverfassungsgericht gefällte Urteil zur Abschaffung des §116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) einzustufen. Der Arbeitsrechtler Ulrich Zachert sieht in dem Urteil des Verfassungsgerichts eine »weitgehende Abschaffung des Streikrechts auf kaltem Wege«.
Was ist die Conclusio aus dem Ganzen? Nun, im Kapitalismus ist der Streik allenfalls ein Palliativmittel und seine Ergebnisse ändern an den grundsätzlichen Ausbeutungsursachen des Lohnsystems gar nichts. Die Tinte unter dem Tarifvertrag ist gerade trocken, ein kurzer Moment der Befriedung zwischen Kapital und Arbeit tritt ein, und danach ist der inhärente Systemwiderspruch schon wieder da. Will man daher die Ursachen der Ausbeutung beseitigen, so muss mit einer umzusetzenden Wirtschaftsdemokratie die kapitalistische Herrschaft beendet werden. Dazu sind die Gewerkschaften und Beschäftigten aufgerufen. Will man dies nicht, und es sieht ganz danach aus, so muss zumindest die Streikbereitschaft und auch -fähigkeit der Gewerkschaften massiv gesteigert werden. Dazu bedarf es der politischen Unterstützung. Als da wären: Beseitigung der Aussperrung von Beschäftigten durch Unternehmer. Pflichtmitgliedschaft aller Beschäftigten in einer Gewerkschaft. Ausbau der betrieblichen und unternehmensbezogenen Mitbestimmung, nicht zuletzt in transnationalen Konzernen. Will man dies auch nicht bzw. es kommt zu keiner Umsetzung, so wird die weitere Abwärtsspirale der Gewerkschaften nicht aufzuhalten sein.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.