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Und was machen wir dafür?
Zum Tod des linken Schriftstellers Erasmus Schöfer
»Und was machen wir dagegen?« Gegen die Zumutungen des Kapitalismus, gegen Imperialismus und Krieg. Für Dietmar Dath ist diese Frage das Lebensmotto von Erasmus Schöfer gewesen. Entsprechend überschrieben ist auch sein Nachruf in der »FAZ«. Am Dienstag ist der Schriftsteller drei Tage nach seinem 91. Geburtstag in Köln gestorben.
Als uneheliches Kind einer Malerin im brandenburgischen Altlandsberg geboren und früh verwaist, machte er sich nach seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« 1962 als Schreibender selbständig. 1970 war Schöfer neben Günter Wallraff, Peter Schütt, Erika Runge, Max von der Grün und Angelika Mechtel einer der Protagonisten des westdeutschen »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt«. Dieser wollte die Literatur realistisch, das heißt: welthaltig machen und den Graben zwischen Kopf- und Handarbeiter*innen überwinden, indem er Arbeiter*innen zum Schreiben ermächtigte. Sein Ziel sei gewesen, so Schöfer, »eine Organisation für die Qualifizierung schreibwilliger Lohnabhängiger zu entwickeln, in Anwendung meiner berufsspezifischen intellektuellen und handwerklichen Fähigkeiten«. Und er fügte hinzu: »Im Kollektiv, klar.«
Die zeitweilig 450 schreibenden Mitglieder, organisiert in 38 lokalen Werkstätten, produzierten etwa 60 Bücher mit einer Gesamtauflage von über eine Million (1981), die, so Schöfer, »die bis dahin kaum bekannte Situation der in der industriellen Produktion Arbeitenden« beschrieben. Eine große Leistung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass realistische Situationsbeschreibungen des Lebens der industrie- und dienstleistungsproletarischen Bevölkerungsmehrheit heute extrem rar sind und eher zufällig passieren, wenn Schriftstellerinnen zeitweilig in die Arbeiterklasse absinken und dann aber noch über ihre Erfahrungen zu schreiben in der Lage sind. So wie Heike Geißler in »Saisonarbeit« (2014) oder Katja Oskamp in »Marzahn mon amour« (2019).
Die »Werkkreis«-Idee war keine Kopfgeburt. Der Kreis schloss an die besten Traditionen der kommunistischen Arbeiterbewegung an, die im Rahmen des »Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« die Kunst radikal demokratisierte. Durch seine Erfahrung hat Schöfer viel gelebte Geschichte zu erzählen gewusst. In seinem Hauptwerk, der phänomenalen Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos« (2001-2008) sind die politischen Kämpfe seiner Generation verarbeitet, von 1968 bis 1989. Das Romanepos wurde auch im bürgerlichen Feuilleton gepriesen und braucht sich vor der »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss nicht zu verstecken.
Viel Selbsterlebtes mit realen Personen – von Wolfgang Abendroth über Therese Giehse bis Heinz Schubert – schlägt sich darin nieder. Er habe, so Schöfer 2016, »im Wesentlichen eben auch die Personen beschrieben, die politisch gehandelt haben (…). Und zwar in Zusammenhängen, wo ich selber auch dabei war.« Das sei ihm als das Rezept für gelungene politische Romane erschienen: »Indem ich über Menschen schreibe, die politisch handeln und denken.«
Wenn man heute verstehen will, dass und wie 1968 nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland ein Jahr auch der Arbeiterrevolte war, kann man es von ihm lernen. Durch seine Arbeit im »Werkkreis«, seine Zusammenarbeit mit den Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth in Immenhausen, die im März 1970 von ihnen selbst – bis dahin einmalig in der Nachkriegs-BRD – unter Arbeiterkontrolle genommen wurde, wusste er, wovon er sprach. Er projizierte nicht, er schrieb als Innenstehender.
Viele radikalen Studentinnen und Studenten wähnten sich 1968 in einer Weltrevolution. Die subjektive Niederlage interpretierten sie als das Ergebnis eines gescheiterten Bündnisses mit der Arbeiterbewegung. In »Die Kinder des Sisyfos« wird das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und bürgerlichen Funktionseliten, die gegen ihre angedachte Funktion im kapitalistischen Staat rebellieren, in Gestalt des marxistischen Intellektuellen Bliss, der später durch den »Radikalenerlass« am Lehrerberuf gehindert wird, und des kommunistischen Arbeiters Manfred Anklam geschildert. Die Befreiung, die Schöfer erträumte, war aber eine universelle: des ganzen Menschen, auch sexuell, und die der Frauen vom Patriarchat. Am Ende des vierten Bandes verlassen die beiden großen Frauenfiguren – Lena Bliss und Malina Stotz – ihre Männer.
Der vierte Band von »Die Kinder des Sisyfos« endet 1989, weil, wie Schöfer im Gespräch mit Günter Wallraff sagte, in diesem Jahr »die großen Illusionen, dass der reale Sozialismus zu reformieren wäre, für uns, die wir das gehofft und auch daran mitgearbeitet haben, erst einmal zusammengebrochen waren«. Die Betonung liegt auf »waren«. Denn seine Gesinnung hing er, im Gegensatz zu manchem seiner DKP-Parteigenossen, nicht an den Nagel. »Asche im Kopf, war das existenziell deprimierende Gefühl des Autors. Aber die Not der nicht gewendeten Verhältnisse peinigte mich zu meiner erneut schreibenden Suche nach Glut unter aller Asche«, so beschreibt Schöfer dreißig Jahre nach 1989 sein Gefühl in einem Text, um den ich ihn für eine Literaturreihe unserer Zeitschrift »LuXemburg« bat. Indes: Schöfer suchte nicht nur, man fand ihn auch stets und bis zuletzt dort, wo im Rheinland irgendwo soziales Unrecht anzuprangern und Protest zu organisieren war. »Und was machen wir dagegen?« Gegen den Kapitalismus. Ja. Aber auch: Was machen wir dafür? Für einen neuen, besseren Sozialismus.
Schöfers Sozialismus nahm die Marx’sche Zielvorstellung von der freien Assoziation, bei der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, ernst. Gegen den Personenkult in der 68er-Bewegung forderte er einmal, »dass jeder mit seinem eigenen Porträt überm Kopf demonstrieren« müsse, weil es »ja um die Verwirklichung der Persönlichkeit« gehe, »damit das Individuum zum Ausdruck aller seiner Fähigkeiten« komme.
Gleichzeitig tolerierte sein Denken eigentlich nur ein »Wir«. Seine Mitgliedschaft in der DKP begründete Schöfer damit, dass man »nicht allein als Einzelner etwas verändern« könne, »sondern man braucht Genossen«. Dass er als einfacher Warenproduzent von Literatur im prekären Freiberuflerstatus gezwungen war, mit seinem eigenen Werk immer wieder auch hausieren zu gehen, darunter litt Schöfer. Die schmerzhafte Erinnerung an das, was es einmal an Organisationsniveau gegeben hat, heute nicht mehr existiert, führte er dann und wann auf die Entstehung des Privatfernsehens zurück.
Trotzdem gab sich Schöfer nie der Resignation hin. Ungeachtet vieler politischer Niederlagen und der welthistorischen Erschütterungen, die die kommunistische Weltbewegung zu seinen Lebzeiten getroffen haben, blieb er nicht nur seinen Überzeugungen bis zuletzt treu, sondern auch kämpferisch. An ihm kann man sich ein Beispiel nehmen, wie man politisch schwere Zeiten aushält, Niederlagen verarbeitet und produktiv wendet, den Kompass für dasselbe Ziel eines menschenwürdigen Lebens für alle immer wieder neu justiert. Und wie man bei allen Erschwernissen in den Mühen der Ebene die Leichtigkeit und Lebensfreude nicht verliert.
In »Der Mythos des Sisyphos« schrieb Albert Camus: »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Auch Erasmus Schöfer darf man sich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Der letzte Band der »Kinder des Sisyfos« endet mit einem Lachen. Natürlich einem gemeinsamen.
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