- Politik
- Scholz in Kiew
Anreise im Sirenengeheul
Spitzenpolitiker aus Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien besuchten Kiew
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist in die Ukraine gefahren. Gemeinsam mit ihm hatten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi in Polen einen Zug bestiegen, der sie nach Kiew brachte. Dort wurden die Staatsmänner von Sirenengeheul empfangen. Auch in anderen Landesteilen sei Luftalarm ausgelöst worden, hieß es, denn: Russland lasse nicht nach im Bemühen, die Ukraine zu zerstören. In den vergangenen knapp vier Monaten des Krieges, so heißt es in der ukrainischen Hauptstadt, hätten Moskaus Truppen bereits mindestens ein Fünftel des Landes unter ihre Kontrolle gebracht.
Wie zuvor schon andere westliche Staatsgäste führte man das am Donnerstag eingetroffene Trio, zu dem auch der rumänische Präsidenten Klaus Johannis stieß, nach Irpin. In dem Kiewer Vorort hatten die ukrainischen Verteidiger dem Ansturm der russischen Angreifer erfolgreich Widerstand geleistet. Zwischen all den Trümmern verurteilte Scholz die »sinnlose Gewalt« der Eroberer. Es sei ein furchtbarer Krieg, Russland treibe ihn mit größter Brutalität und ohne Rücksicht auf Menschenleben voran. Das, so der deutsche Sozialdemokrat, müsse »zu Ende gehen«.
Während Johannis die Bestrafung der Kriegsverbrecher forderte, sah Italiens Premier Mario Draghi am Ort der Zerstörung auch »Hoffnung«. Vieles, was ihm hier erzählt wurde, drehte sich um »die Zukunft und den Wiederaufbau«. Das ukrainische Volk sei durch den Krieg geeint, es könne so nun Sachen schaffen, die vor dem Krieg vielleicht nicht möglich gewesen wären.
Irpin sei »eine heroische Stadt, gezeichnet von Stigmata der Barbarei«, sagte Emmanuel Macron. Bereits bei der Ankunft in Kiew hatte er dem Gastland die geschlossene Unterstützung Europas bei der Abwehr des russischen Angriffs zugesichert. Das sei eine »Botschaft der europäischen Einheit, adressiert an die Ukrainerinnen und Ukrainer«. Zugleich, so Macron, müsse man über die Zukunft sprechen, »weil wir wissen, dass die nächsten Wochen schwierig werden«.
Nach den Worten von Emmanuel Macron sprechen sich Frankreich, Deutschland, Italien und Rumänien für einen »sofortigen« EU-Kandidatenstatus der Ukraine aus. »Alle vier« würden einen solchen Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt unterstützen, sagte Macron am Donnerstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi in Kiew. »Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau«, sagte Scholz. »Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.« Draghi ergänzte: »Italien will die Ukraine in der Europäischen Union.« Der italienische Premier will auch die Blockade der ukrainischen Häfen durch Russland beenden. »Der einzige Weg ist eine Resolution der Vereinten Nationen, um die Korridore im Schwarzen Meer zu regeln«, sagte Draghi. Russland lehnt dies bislang ab.
Die immer wieder bemühte und versprochene Einheit der westlichen Staaten, die an der Seite der Ukraine stehen, ist aber nicht immer so klar erkennbar. Das gilt für die Lieferung von Waffen an die Ukraine, noch mehr aber für ein notwendiges Nachdenken über Möglichkeiten für ein Kriegsende. Ob die Besucher dafür nun eine Idee oder sogar einen gemeinsamen Plan im Gepäck hatten, wurde am Donnerstag nicht deutlich.
Es brauche dringend eine neue Weichenstellung, unterstrich auch der ukrainische Botschafter in Deutschland: Andrij Melnyk wertete den Scholz-Besuch als »wichtiges Signal« und hofft, es werde »ein neues Kapitel deutscher Unterstützung für die Ukraine« aufgeschlagen. Worunter Melnyk die Lieferung schwerer Waffen versteht. Die sollten auch aus Beständen der Bundeswehr kommen, denn: »Nichts steht im Weg, dass Deutschland einen erheblichen Teil von eigenen 800 Transportpanzern Fuchs, 325 Leopard-2-Panzern oder 380 Marder-Panzern der ukrainischen Armee zur Verfügung stellt, um die russischen Truppen zu zerschlagen.« Dies würde »die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik nicht schmälern«, behauptete Melnyk.
Mittelfristig brauche die Ukraine zudem deutsche U-Boote, Korvetten, Patrouillen- und Kampfboote, »um die lange Schwarzmeerküste zu verteidigen und die russische Überlegenheit auf See zu eliminieren«. Dann könnte auch die globale Ernährungssicherheit gesichert werden. Frankreich sicherte der Ukraine zu, weitere Caesar-Haubitzen zu liefern, so Emmanuel Macron in Kiew.
Während die Gäste mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Gespräche zum angestrebten EU-Kandidatenstatus des Landes führten, tauschten sich in Brüssel Vertreter der Nato-Mitgliedsstaaten über die weitere, lange Unterstützung der Ukraine aus. Bereits am Mittwoch hatte die von den USA geführte internationale Kontaktgruppe betont, alles zu liefern, was zur Verteidigung der Ukraine notwendig ist. Die US-Regierung, so Präsident Joe Biden, werde der Ukraine weitere Waffen und Ausrüstung im Wert von einer Milliarde US-Dollar liefern. Die USA stellten der Ukraine zudem 225 Millionen US-Dollar zur Verfügung, unter anderem für die Versorgung mit Trinkwasser, medizinischen Gütern und Lebensmitteln.
Die Reise der westlichen Staatsmänner nach Kiew wurde am Donnerstag in den russischen Medien nur marginal behandelt. Die amtliche Nachrichtenagentur Tass verwies auf die diversen Irritationen, die es in der Vergangenheit zwischen der ukrainischen und der deutschen Regierung gegeben hatte und die einer Reise von Scholz bislang im Wege standen. Die Tageszeitung »Iswestija« konsultierte den ständigen Vertreter Russlands bei der Europäischen Union, Wladimir Tschischow. Der verwies darauf, dass vom Präsidenten der USA Signale ausgesandt worden seien, laut denen die Situation am Verhandlungstisch zu lösen sei. Dies, so Tschischow, stimme nicht mit der Meinung überein, die EU-Außenkommissar Josep Borrell vertrete. Der gehe von einer Lösung »auf dem Schlachtfeld« aus.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.