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Die Dorfschule hat abgestimmt
Die Zahlen des »Politbarometers« sollten all denen zu denken geben, die mit brachialer Rhetorik nach immer mehr Waffen rufen, meint Christoph Ruf.
Bitte glauben Sie mir: Es tut mir körperlich weh, Olaf Scholz verteidigen zu müssen. Auch weil ich Journalist bin und bei Scholz-»Interviews« regelmäßig Wutanfälle bekomme. Wenn in einer x-beliebigen Stadt jemand auf die Frage, wo es zum Bahnhof gehe, antwortet, Züge seien praktische Fortbewegungsmittel, die auf Schienen fahren, erntet der sicher fragende Blicke. Scholz, der brave Sprachroboter bei der Durchsetzung des Sozialabbaus unter Rot-Grün, führt heute ganze Interviews, indem er keine einzige Frage beantwortet. Er geht dabei sogar noch weiter als seine Vorgängerin, bei der man sich auch schon gefragt hat, warum so viele Kolleginnen und Kollegen das inhaltsleere Gerede nicht einfach mal unterbrechen und auf ihre eigentliche Frage hinweisen. Bei all dem hält sich Scholz allerdings für wahnsinnig klug und belesen, was für ihn offenbar die Pflicht impliziert, niemanden an der Brillanz seiner Gedanken teilhaben lassen zu müssen.
Wie dem auch sei: In der jetzigen Situation bin ich heilfroh, von ihm als Kanzler regiert zu werden und nicht etwa von Merz, Hofreiter oder gar einem jener deutschen Leitartikler, die seit Wochen so tun, als gäbe es keine einfachere Frage als die, was zu tun ist, um einerseits einen Aggressor im Zaum zu halten und andererseits eine weitere globale Eskalation zu verhindern. Vielerorts bekommt man jedenfalls den Eindruck, auf dem Weg zum himmlischen Frieden lägen neben dem Dalai Lama möglichst viele Waffen für die Ukraine. Und selbstverständlich deren umgehende Aufnahme in die Nato, die man auch Georgien, Moldawien, Argentinien und der Milchstraße nicht verwehren dürfe. Man nennt Scholz folgerichtig wahlweise einen »Zauderer«, »Zögerer« oder »Drückeberger«, was alles nicht zufällig nach dem Vokabular klingt, das senile Generäle einst Wehrdienstverweigerern entgegengebrüllt haben. Das allerdings in Zeiten, in denen man sich noch nicht traute, eine »deutsche Führungsrolle« anzumahnen.
Zu den »Drückebergern« will man jedenfalls nicht gehören, wenn der Herdentrieb zur Staatsräson geworden ist. Kein Wunder, dass da Schlagersänger wie Campino eilfertig erklären, mit dem Wissen von heute würden sie nicht mehr wie 1983 den Wehrdienst verweigern, sondern brav zum Bund gehen. Bis Düsseldorf hatte sich in den 80ern eben noch nicht herumgesprochen, dass es Kriege gibt, die doch tatsächlich mit Waffen geführt werden, weshalb der Volksbarde die Frage, wie er selbst sich dann verhalten würde, auch erst 39 Jahre später richtig beantworten kann.
Nun ärgert es mich generell, wenn Journalisten so tun, als seien komplexe Fragen kinderleicht zu beantworten. An der Ukraine-Berichterstattung wundert mich aber etwas anderes: Dass aus vielen dieser Zeilen die Überzeugung spricht, man bringe nur das zu Papier, was jeder vernunftbegabte Bürger auch so sieht. Wer »Worauf wartet der Kanzler?« fragt, ist sich jedenfalls ganz sicher, im Namen der moralischen Mehrheit zu sprechen. Aber was, wenn der Glaube, im Namen aller Vernünftigen zu sprechen, ein Trugschluss wäre, der darauf beruht, dass viele Journalisten 95 Prozent ihrer politischen Gespräche mit Kolleginnen und Influencern aus dem Politbetrieb führen?
Zum Wochenende kamen die aktuellen Zahlen aus dem »Politbarometer«. Die wurden im ZDF angemessen ehrlich als »überraschend« eingeleitet. Was man wiederum als Eingeständnis interpretieren kann, dass da irgendein Kompass verlorengegangen ist. 43 Prozent der Bevölkerung finden jedenfalls die angeblich so skandalöse Scholz‹sche Politik »genau« richtig, 16 halten sie sogar für zu offensiv. 64 Prozent glauben zudem nicht, dass die Ukraine mit Hilfe schwerer Waffen den Krieg gewinnen wird. Fast zwei von drei Menschen schätzen die Lage also offenbar ganz anders ein als diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die über die Ukraine-Politik so schreiben, als seien sie Dorfschullehrer, die es mit begriffsstutzigen Kindern zu tun haben. Doch im Gegensatz zu denen sieht die schreibende Zunft nicht sechs Wochen Sommerferien entgegen. Man kann das in vielerlei Hinsicht bedauern.
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