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Der Jurist und sein lyrisches Ich
Am Mittwoch beginnt der Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerb. Şafak Saricicek ist Stipendiat des Literaturevents
Vor wenigen Wochen schrieb Şafak Sariçiçek sein erstes Staatsexamen. Jetzt folgt eigentlich das juristische Referendariat. Eigentlich, denn Şafak Sariçiçek ist noch unentschlossen, was er tun wird. Am liebsten, sagt er, würde er einen Roman schreiben.
Es ist ein trüber Nachmittag. Heidelberg sei um diese Zeit immer ungewöhnlich ruhig, sagt Sariçiçek, dessen Familie in Istanbul lebt. Er sieht ein wenig müde aus, als er das Café der Stadtbücherei betritt. Auch hier ist es still. So still, dass die Kellnerin die Gäste ermahnt, leiser zu sprechen.
Ruhe, das ist es auch, was Şafak Sariçiçek zum Schreiben braucht, denn Lyrik, sagt er, erfordere viel Konzentration. Wenn es ihm aber gelingt, den Flow zu finden, werde er regelrecht euphorisch und erst später, nach Abschluss der Arbeit, spüre er eine tiefe Erschöpfung. Dann ist Regeneration sehr wichtig, so auch momentan. Seinen letzten Gedichtband, »Im Sandmoor ein Android«, hat Sariçiçek letztes Jahr herausgebracht, mitten in der Pandemie, und dafür den Preis für Heidelberger Autor*innen erhalten. Er erzählt von Mythen, Künstlicher Intelligenz und den Tiefen der menschlichen Seele, getragen vom »Klang und Rhythmus« der Worte, wie die Literaturkritikerin Noha Abdelrassoul schreibt.
Überhaupt steht das Leben im Zentrum von Sariçiçeks Arbeit. Es sind philosophische Fragen nach dem Menschsein, die den jungen Dichter bewegen. Im Grunde, sagt er, hänge die Menschheit nach wie vor einem geozentrischen Weltbild an, der Transhumanismus der Moderne habe lediglich die Mythologien der Antike ersetzt. Sariçiçek spricht konzentriert, jedes Wort sitzt. Es sei geradezu Hybris, wie unsere Gesellschaft mit der Natur umgehe, sagt er und klingt dabei ein wenig wie ein Kyniker. Doch Sariçiçek widerspricht. Er will sich keiner philosophischen Schule zuordnen lassen, sondern offenbleiben für vielfältige Sichtweisen. Möglicherweise hat das mit seiner Neigung zu tun, vielen Interessen nachzugehen, möglicherweise auch mit seiner Herkunft.
Şafak Sariçiçek wurde 1992 in Istanbul geboren und wuchs als Sohn einer Psychologin, die zeitweise in Deutschland gearbeitet hatte, und eines Juristen zweisprachig auf. Mit dem Vater sprach er türkisch, mit seiner Mutter und mit seinen Schulfreunden hingegen oftmals deutsch, denn Sariçiçek besuchte in Istanbul die Deutsche Schule. Schon früh schrieb er kurze Geschichten für seinen jüngeren Bruder, damals noch auf Türkisch. Nach dem Abitur begann er ein Jurastudium in Heidelberg und schreibt seither hauptsächlich Gedichte. Auf Deutsch, denn Lyrik, folgerte er, würde seinen deutschen Wortschatz erweitern.
Ob ihm dadurch, dass er nicht in seiner Muttersprache schreibt, ein Nachteil entsteht? Sariçiçek glaubt das nicht. »Ich spreche sowieso nicht meine Sprache«, sagt er, denn er und seine Familie sind Zaza, Angehörige einer Bevölkerungsgruppe in Ostanatolien, die eigentlich Zazaki sprechen. Seine Mehrsprachigkeit und seine kulturellen Wurzeln, glaubt er, bereichern seine Arbeit mehr, als dass sie sie behindern. Unproblematisch sei die Situation dennoch nicht. Sariçiçek will, dass seine Arbeit für sich steht, aber Pluralität in der Literatur werde häufig undifferenziert als »postmigrantisch« abgestempelt. Er hingegen sieht in der Vielfalt und in einem offenen Blick auf die Welt das Kernelement jeder Kunst und ist überzeugt, dass das auch für das Zusammenspiel zwischen Jura und der Schriftstellerei gilt.
Die beiden Disziplinen haben auf den ersten Blick wenig gemein. Das eine nüchtern, strukturiert, das andere kreativ und ohne Regeln. Doch der dichtende Jurist ist keine Ausnahme. Sein Studienfach teilt Sariçiçek mit Franz Kafka, Theodor Storm und Johann Wolfgang von Goethe, und er glaubt, dass es dafür pragmatische Gründe gibt. Für viele Dichter sei Jura ein Brotberuf, allerdings habe das Studium auch seinen Schreibprozess verändert. Dank der strengen Sprachlogik in Jura schreibe er inzwischen analytischer und weniger impulsiv als noch vor einigen Jahren. »Das Dichten ist vor allen Dingen eine rationalisierende Leistung. Es darf nicht nur strömen«, sagt Sariçiçek, und vielleicht hilft ihm dabei auch, dass er seine Gedichte stets von Hand schreibt.
Irgendwann, hofft er, wird er von seiner Literatur leben können. Doch die Szene ist hart umkämpft. Einer aktuellen Studie des Kulturstaatsministeriums zufolge ging die Zahl der unabhängigen Verlage in Deutschland zwischen 2010 und 2018 jährlich um 1,5 Prozent zurück, die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters sieht darin die »kulturelle Vielfalt des Buchmarktes ernsthaft bedroht«. Für Şafak Sariçiçek liefen die letzten Jahre trotzdem gut. Nachdem ein Verleger auf ihn aufmerksam wurde, brachte er 2017 sein Debut »Spurensuche« heraus. Seither publiziert Sariçiçek regelmäßig eigenständige Lyrikbände und wurde für seine Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt mit einem Stipendium für den renommierten Klagenfurter Literaturkurs, der sich zum Ziel setzt, junge Autor*innen zu fördern und schon so manchen Bachmannpreisträger hervorgebracht hat. Doch trotzdem ist er von einem Leben als hauptberuflicher Schriftsteller weit entfernt. Zu niedrig sind die Einnahmen aus Buchverkäufen, zu knapp die Stipendien.
Vielleicht tröstet es da, dass die Sorge um den Brotverdienst die meisten Schriftsteller eint. Sariçiçek erzählt von Gesprächen mit russischen und chinesischen Dichtern, die er im Rahmen der Heidelberger Literaturtage und eines Stipendiums der Unesco geführt hat. Immer wieder ging es darin um die zentrale Frage, wie man seinen Lebensunterhalt bestreitet. Doch schlussendlich gibt es für Schriftsteller eben keinen vorgefertigten Weg. Es bleibt nur, auf sich selbst zu schauen und weiterzumachen. Vielleicht ja als nächstes mit einem Roman.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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