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Das Fremde in mir

Im Dokumentarfilm »Mein fremdes Land« geht es um Herkunft und Heimat

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Manuel kam über ein bolivianisches Waisenhaus nach Deutschland zu seiner neuen Familie. Jetzt will er wissen, woher er kommt – und macht sich auf die Reise ins Unbekannte.
Manuel kam über ein bolivianisches Waisenhaus nach Deutschland zu seiner neuen Familie. Jetzt will er wissen, woher er kommt – und macht sich auf die Reise ins Unbekannte.

Da will jemand wissen, was ihm fehlt. Obwohl er doch alles zu haben scheint: ein wohlhabendes schwäbisches Elternhaus, viel erfahrene Zuwendung und einen Beruf, den er sich gewünscht hat – Cutter bei einer Stuttgarter Postproduktionsfirma. Was fehlt dem 31-Jährigen denn überhaupt? Ein Stück Lebenserzählung. Denn geboren wurde er in Bolivien.

Als Kleinkind zur Adoption freigegeben, kam Manuel über ein bolivianisches Waisenhaus nach Deutschland zu seiner neuen Familie. Im Waisenhaus wäre er gestorben, sagt seine deutsche Mutter: Er habe keine Reaktionen mehr gezeigt, nicht geschrien, nicht geweint, sich nicht einmal mehr bewegt, einfach aufgegeben.

Er hat seiner neuen Familie viel zu verdanken, das sagt er ganz ohne Vorbehalt. Jedoch, jeder habe es ihm von klein auf angesehen, dass er aus Lateinamerika käme, mit seiner dunklen Haut und den pechschwarzen Haaren. Das erhöhte den Druck auf ihn, zu zeigen, dass er doch dazu gehöre, besser sein könne als die anderen. Wenn man ihm als Kind oder Jugendlichem Fotos aus Bolivien zeigte, drehte er sie immer sofort um, davon wollte er nichts wissen, damit konnte er nicht umgehen.

Bis vor einigen Jahren war das so. In Bolivien hatte man ihn weggegeben, fast wäre er gestorben – warum sollte er nach seiner Familie dort suchen, wo er hier doch eine hatte, wie er sie besser nicht wünschen konnte? Doch nun fragt er sich, ob es wirklich so einfach war, oder ob eine kompliziertere Geschichte dahintersteckt. Jetzt will er wissen, woher er kommt – und macht sich auf die Reise ins Unbekannte. Auf dieser Reise wirkt Manuel immer ein bisschen wie eine Mischung aus den Märchenfiguren »Hans im Glück« und »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Seine Motivation so stark wie einfach: »Ich glaube, es ist wichtig zu wissen, wo die eigenen Wurzeln liegen.«

Film und Reise sind für ihn untrennbar verbunden. Denn »Mein fremdes Land« wird dem behüteten Schwabenkind, das allen und jedem offen und ohne Arg entgegentritt, zum Schutzraum. Er ist jenes Distanzmedium, das er braucht, um in ein fremdes Land zu reisen, immer sein Lieblings-T-Shirt wie ein Bekenntnis tragend: »Kein Mensch ist illegal.« Über Bolivien weiß er nichts, spricht auch kein Spanisch. Dafür hat er gleich drei Regisseure für jenen Film gefunden, dessen Hauptdarsteller wider Willen er nun ist: Marius Brüning, Johannes Preuss und Malte Schumacher. Man kennt sich vom gemeinsamen Studium an der Filmakademie Ludwigsburg.

In seiner Geburtsurkunde heißt er José Noé Estrada – und so findet er per Internetrecherche und mit der Hilfe zweier deutschsprachiger Helfer vor Ort auch seine Mutter in einem abgelegenen Bergdorf in Bolivien – eine Ziegenhirtin, die nie lesen und schreiben lernte und bereits drei Kinder hatte. Ein bisschen wirkt das junge Filmteam immer wie Mark Twains »Die Arglosen im Ausland«. Man weiß nie, stimmt es, was man ihnen erzählt, oder erzählt man das, wovon man sich einen Vorteil verspricht. Kritische Nachfragen gibt es nicht, das macht die Poesie dieser Suche aus, aber lässt auch (zu) viele Fragen offen.

Da wird dann die Frage nach der eigenen Identität zu einem schwer lösbaren Rätsel. Der Gegensatz der Welten verblüfft Manuel: Wie arm kann man sein in dieser Welt? Er ist auch gekommen, damit sich seine Mutter keine Vorwürfe mache, dass sie ihn weggegeben hat: Es sei ihm schließlich gut gegangen. Doch nun möchte er sie endlich in die Arme nehmen, sie, die er noch nie gesehen hat, die ihm eine Fremde ist. Die 59-Jährige, zu der er gebracht wird, wirkt abgearbeitet wie eine alte Frau. Sie beteuert, man habe sie gezwungen. Sie hatte schon drei Kinder, die sie kaum ernähren konnte. Immer noch hütet sie Ziegen, lebt in einer primitiven Hütte auf einem Stück Land, dessen enorme Größe Manuel das Schwabenkind verblüfft: »Mein Söhnchen, wo warst du?«, weint sie – es wird hier viel geweint, und man weiß nicht recht, warum.

Aber bald schon stellt sich Brechts Frage aus dem »Kaukasischen Kreidekreis«: Wer ist die wahre Mutter, die, die ihn großzog oder die, die ihn geboren hat? Doch Manuel ist niemand, der die Widersprüchlichkeit der Dinge forciert, er sucht die Harmonie – für ihn ist es einfach die erste und die zweite Mutter, die erste und zweite Heimat. Eine Win-win-Situation, was sonst? Dann schenkt ihm die – erste oder zweite, wie man will – Mutter auch noch einen Birnenbaum in ihrem ansonsten kargen Garten und sein Glück ist perfekt.

Irgendwann müssen sich die drei Regisseure gesagt haben, dass lauter Wiedersehensfreude und Bäche von Tränen allein nicht ganz ausreichend sind für einen abendfüllenden Dokumentarfilm. Man will als Zuschauer auch wissen, was für ein Land Bolivien ist, das Manuel innerhalb weniger Tage zu seiner zweiten Heimat erklärt. Und so spielen sie den Gedanken durch, was wäre aus ihm hier geworden? Seine fern lebenden Geschwister kommen ins Spiel, ein Bergwerk in der Nähe als einzige Industrie. Wer dort arbeitet, sagen die Arbeiter, der muss immer mit dem Tod rechnen. Wer sieht, wie gefährlich offen die Stromleitungen für die Maschinen liegen, glaubt das sofort. Oder wenn die Arbeiter sagen, Koka sei die wichtigste Nahrung für sie, ohne dieses hielte das hier niemand aus.

Wäre er für dieses harte Land zu weich?, so scheint sich Manuel im Stillen zu fragen. Vermutlich. Aber sein guter Wille und sein Hang zur Harmonie sind sympathisch. Er will sehen und hören, wie man hier lebt, will teilhaben am Leben der Menschen.

Fast wäre es also das perfekte Märchen geworden. Manuels Augen leuchten vor Freude über die neu gewonnene Familie. Aber dann erzählt ihm seine Schwester, dass er noch einen Zwillingsbruder habe, der in Argentinien lebe. Eine Ausschmückung zuviel? Die Mutter danach gefragt, wehrt ab, das sei »zu privat«.

Jetzt erwacht auch in Manuel das erste Mal so etwas wie Befremden. Was die Wahrheit über sein Herkommen und über Bolivien ist, das wird er beim nächsten Mal, besser vorbereitet, selbst herausfinden müssen. Stück für Stück muss er sich voranarbeiten in die Vergangenheit, ohne die die Gegenwart eine andere wäre, und einiges wird ihm dennoch verborgen bleiben. Seine Reise in das, was für ihn Heimat werden soll, seine deutsch-bolivianische Doppel-Heimat, sie hat gerade erst begonnen.

»Mein fremdes Land«: Deutschland 2021, Regie und Buch: Johannes Preuß & Marius Brüning. Mit: Manuel Sosnowski, Diego Gonzalez. Start: 23. Juni.

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