Selbstbestimmt und unperfekt

Das Projekt Habersaathstraße darf seine Macken haben, findet Nora Noll

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 2 Min.
In der Habersaathstraße fordern wohnungslose Aktivist*innen die Zählung von Leerstand. Das Projekt mit 50 Leuten ist zwar nicht perfekt, aber ermöglicht ein freieres Leben als in Unterkünften oder auf der Straße.
In der Habersaathstraße fordern wohnungslose Aktivist*innen die Zählung von Leerstand. Das Projekt mit 50 Leuten ist zwar nicht perfekt, aber ermöglicht ein freieres Leben als in Unterkünften oder auf der Straße.

Was Sven, ein neuer Bewohner der Habersaathstraße 40-48, erzählt, klingt ein bisschen desillusioniert. Es gebe viele Konflikte und Spannungen in der Gruppe der knapp 50 ehemals Wohnungslosen, die seit über einem halben Jahr in dem vormals teil-leerstehendem Gebäudekomplex wohnen. Er selbst kümmere sich um so einiges, nehme Essensspenden an, repariere Türen, trenne den Müll. Andere hingegen würden sich gar nicht um die Hausgemeinschaft bemühen.

Böse Stimmen könnten aus Svens Bericht ein Argument für weniger Selbstbestimmung stricken. Könnten sagen: Die Idee von Housing First, also wohnungslose Menschen zuallererst mit Wohnraum zu versorgen, sei naiv. Die Probleme nach Jahren auf der Platte seien zu groß, um ein »ordentliches« Leben in vier Wänden zu führen. Das Ideal der Selbstbestimmung sei an der Realität gescheitert.

Doch Selbstbestimmung muss nicht perfekt sein. Das Experiment Habersaathstraße darf seine Macken haben. Und es ist wichtig, die Probleme nicht aus strategischen Gründen zu verdrängen. Natürlich, bei umstrittenen und nicht wirklich legalen Projekten liegt der Gedanke nahe, vor allem das Positive hervorzuheben. Und positive Aspekte gibt es ja viele: Bewohner*innen schaffen es aus der Abhängigkeit, können eine Tür hinter sich schließen und sich um andere Sorgen als einen Schlafplatz kümmern.

Aber wenn in der Kommunikation nach außen neben all dem Guten die Probleme verdrängt werden, um das Projekt ja nicht zu gefährden, schadet dies mehr, als dass es hilft. Denn dann entsteht irgendwann der Eindruck, ein Raum für die Marginalisierten, Ausgeschlossenen und Unterdrückten unserer Gesellschaft müsste jeder Güte-Prüfung standhalten, um von der Mehrheitsgesellschaft toleriert zu werden. Müsste sauber, entspannt, konfliktlos und alles in allem widerspruchsfrei gut sein. Diesen Maßstäben zu entsprechen, ist letztlich unmöglich. Deshalb sollte es lieber heißen: Ja, es wird sich gezofft, und ja, das ist manchmal nicht so schön. Aber es ist allemal besser, als fremdbestimmt in einer staatlichen Unterbringung zu leben. Deal with it.

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