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Die Wahrheit ist in diesem Raum
Systemischen Rassismus sichtbar machen: Die Ausstellung »Three Doors« in Frankfurt am Main über den Anschlag von Hanau und den Tod von Oury Jalloh
Für die Verwicklung von Behörden in rassistische Gewalt gibt es viele Beispiele. Der Anschlag von Hanau im Februar 2020 und der Tod von Oury Jalloh, der im Januar 2005 in einer Zelle des Polizeireviers Dessau verbrannte, sind zwei davon. Seit Jahren kämpfen Angehörige, Überlebende und Unterstützer*innen für Aufklärung.
In Hanau sollen die Ermittlungsverfahren jetzt eingestellt werden, obwohl die bisherigen Ermittlungen voller Lücken und Widersprüche sind. Außerdem waren 13 der Polizist*innen, die am Tatort eingesetzt wurden, in rechtsradikalen Chats aktiv, wie sich dann herausstellte. Im Fall Oury Jalloh dauert die systematische Vertuschung dessen, was wirklich geschah, seit 17 Jahren an. Nur aufgrund der unermüdlichen Arbeit der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh konnte bewiesen werden, dass es ohne Brandbeschleuniger nicht möglich gewesen wäre, die Matratze in seiner Zelle in Brand zu setzen, dass Jalloh Knochenbrüche erlitten hatte und dass das Feuer vermutlich dazu diente, seine Ermordung zu vertuschen.
In beiden Fällen konnten nun Angehörige und Unterstützer*innen in Zusammenarbeit mit dem Forschungs- und Kunstkollektiv Forensic Architecture neue Beweise für das Versagen der Behörden sammeln. Diese werden derzeit in der umfangreichen Ausstellung »Three Doors« im Frankfurter Kunstverein präsentiert. Es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Kunstausstellung, sondern um den Versuch, Informationen visuell und räumlich zugänglich und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Ergänzt durch die Stimmen von Betroffenen entsteht so eine Gegenerzählung zur behördlichen Darstellung der Fälle.
Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf drei Türen, die im Fokus der Arbeit von Forensic Architecture standen: der Notausgang der »Arena Bar« in Hanau, die Haustür des Täters Tobias R. und die Tür von Oury Jallohs Zelle. Der Notausgang war in der Tatnacht abgeschlossen; warum, weiß man nicht. Die Staatsanwaltschaft lehnte bisher eine Untersuchung dazu ab, weil angeblich nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, ob sich jemand durch diese Tür hätte retten können. Forensic Architecture hat Aufnahmen der Überwachungskameras ausgewertet, und für das Kollektiv ist klar: Zwei der Ermordeten hätten durch die Tür entkommen können.
Bis die Haustür des Täters geöffnet wurde und die Polizei das Haus betrat, dauerte es fast fünf Stunden, obwohl den Behörden die Adresse bereits kurz nach dem Anschlag bekannt war. Forensic Architecture konnte rekonstruieren, dass das Haus von der Polizei nicht ausreichend gesichert und überwacht wurde. An den Polizeihubschrauber, der über dem Gebiet kreiste, wurde die Adresse nicht weitergegeben. Der Täter hätte das Haus also leicht wieder verlassen und weitere Menschen töten können. Nachdem er neun Menschen, die ihm migrantisch vorkamen, ermordet hatte, brachte er schließlich seine Mutter und sich selbst um.
Offen dagegen war die Tür von Oury Jallohs Zelle, wie Analysen der Rauchablagerungen an den Wänden und der Tür zeigen. Die Polizei behauptet allerdings, dass die Tür geschlossen war und sie erst geöffnet wurde, als die Beamt*innen das Feuer bemerkten. Doch bei geschlossener Tür wäre in der Zelle nicht genug Sauerstoff für das Feuer vorhanden gewesen. Damit ist klar, dass die Polizist*innen gelogen haben und an Jallohs Tod beteiligt waren.
Die Ermittlungen zu den drei Türen sind nicht die ersten von Forensic Architecture in Deutschland. Das Forscher- und Künstler*innenkollektiv aus England hat bereits die Ermordung von Halit Yozgat durch den NSU untersucht. Sie rekonstruierten die Tat, die 2006 in einem Internetcafé in Kassel verübt wurde, in dem auch der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme anwesend war. Temme hatte behauptet, den Mord nicht bemerkt zu haben, doch Forensic Architecture kam zu einem anderen Schluss: Ihnen zufolge muss er den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben.
Die Gruppe hat sich darauf spezialisiert, systemischen Rassismus und staatliche Gewalt sichtbar zu machen. Mit wissenschaftlichen, technologischen und juristischen Methoden analysieren sie Daten und rekonstruieren Vorgänge mithilfe von 3-D-Modelling oder Schauspieler*innen. Dabei arbeiten sie auch mit NGOs und investigativen Journalist*innen zusammen. Bei ihren Ermittlungen, die sie als Gegenforensik und Gegenuntersuchungen beschreiben, weil sie nicht vom Staat verantwortet werden, stehen sie in engem Austausch mit den betroffenen Communitys. Da, wo man es nicht dem Staat überlassen kann, zu ermitteln, weil er selbst zum Täter wird, beginnt die Arbeit von Forensic Architecture.
Die Ermittlungen sind vielfältig. In den letzten Jahren untersuchte die Gruppe auch den Einsatz europäischer Waffen im Jemen und die Enteignung von Bauern in Kolumbien. Die neueste Untersuchung widmet sich dem russischen Angriff auf den Fernsehturm von Kiew am 1. März dieses Jahres, wobei auch der Gedenkort Babyn Jar getroffen wurde, wo die Deutschen 1941 über 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet hatten.
In der Ausstellung in Frankfurt am Main ist den vielen Ermittlungen, die das Kollektiv Forensic Architecture in den zwölf Jahren seit seiner Gründung durchgeführt hat, ein eigener Raum gewidmet. Der Fokus liegt aber klar auf den Untersuchungsergebnissen zu Hanau und zu Oury Jalloh, die auf zwei Stockwerken präsentiert werden. Das Material ist so umfassend, dass man es bei einem einzigen Besuch der Ausstellung unmöglich vollständig erfassen kann. Eine minutengenaue Zeitleiste des Anschlags von Hanau nimmt eine ganze Wand ein und wird von Dokumentarfilmen ergänzt, die die Widersprüche in den Angaben der Polizei rekonstruieren. Eine zweite Zeitleiste zeigt die zweieinhalb Jahre, die seitdem vergangen sind, und dokumentiert die Bemühungen um Aufklärung und die Reaktionen aus Medien und Zivilgesellschaft.
Dmitra Andritsou, die Projektleiterin von Forensis, dem deutschen Ableger von Forensic Architecture, bilanziert die Ergebnisse ihrer Untersuchungen des rassistischen Anschlags in Hanau: »Was und wer vom Staat nicht gehört wird – in der Tatnacht und in den Jahren seit dem Anschlag –, ist eine politische Entscheidung. Sie zeigt die tief verwurzelten rassistischen Strukturen in deutschen Behörden.« Über Letztere sagt Çetin Gültekin, Bruder des in Hanau ermordeten Gökhan Gültekin: »Das, was diese Ausstellung zeigt, wäre doch eigentlich ihre Aufgabe gewesen.«
Die Ausstellung lässt die Betroffenen zu Wort kommen. Auf einer Reihe von Bildschirmen zeigt die Initiative »19. Februar Hanau« die Aussagen der Angehörigen vor dem Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, in denen sie das Versagen der Behörden, die mangelnde Unterstützung und den Rassismus, den sie erleben mussten, thematisieren. Diese wichtigen und ernüchternden Aussagen bekommen so die Öffentlichkeit, die im Ausschuss selbst gefehlt hat. Ebenfalls Teil der Ausstellung ist die Audio-Dokuserie »Die Lücke von Hanau« der Journalisten Dietrich Brants und Jan Tussing, die sich mit den Leerstellen des Falles beschäftigen. Eine der Lücken, die sie aufzeigen, ist die Herkunft des Täters aus der gebildeten Mittelschicht und dass bei ihm Pegida, AfD und Bücher von Thilo Sarrazin zur Radikalisierung beigetragen haben.
Der Raum der Ausstellung, der Oury Jalloh gewidmet ist, erinnert am ehesten an eine künstlerische Darstellung, da die Zelle, in der er verbrannte, als räumliche Installation nachempfunden wurde. An den Wänden und an der Tür sind die Spuren des Rauchs rekonstruiert. »Der Rauch erzählt die Geschichte, er erzählt die Wahrheit«, sagt Eyal Weizman, der Gründer von Forensic Architecture, beim Rundgang durch die Ausstellung.
Mit der herkömmlichen Vorstellung von Kunst hat »Three Doors« wenig zu tun. Dass sie trotzdem in einer Kunstinstitution gezeigt wird und der Frankfurter Kunstverein auch direkt an ihrer Produktion beteiligt war, verweist auf ein erweitertes politisches Verständnis von Kunst. Forensic Architecture bewegt sich an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. Indem sie ihre Arbeiten in visueller Form präsentieren, suchen sie gezielt Öffentlichkeit, wollen aufrütteln und Reflexionen anstoßen.
Gleichzeitig wurden die Ermittlungsergebnisse der Gruppe auch schon mehrfach vor Gericht als Beweise vorgelegt. Es ist auch der Wunsch der Angehörigen von Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili-Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin und Oury Jalloh, dass die Ausstellung tatsächlich etwas bewegt. Niculescu Păun, der Vater von Vili-Viorel Păun, fordert, dass die Staatsanwaltschaft Hanau sich die Ausstellung ansieht. Sein Sohn wurde ermordet, als er versuchte, den Täter zu stoppen. Er wählte mehrfach den Notruf, doch keiner seiner Anrufe ging durch. Wäre die Polizei erreichbar gewesen, könnte er noch leben. »Die Wahrheit«, sagt Niculescu Păun beim Gang durch die Ausstellung, »ist in diesem Raum.«
Bis zum 11. September im Frankfurter Kunstverein, Markt 44, Frankfurt am Main
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