- Kultur
- »Djamila« von Tschingis Aitmatow
Man schmeckt die Sommerluft
»Djamila« von Tschingis Aitmatow in einer Neuausgabe, illustriert von Kat Menschik
»Djamila war schlank und groß, sie hatte glattes, starkes Haar, das in zwei straffe, schwere Zöpfe geflochten war. Ihr weißes Kopftuch trug sie immer ein wenig schräg in die Stirn gezogen, und das stand ihr gut zu der bräunlichen Haut ihres hübschen Gesichts. Wenn sie lachte, blitzten ihre tiefschwarzen, mandelförmigen Augen in jugendlichem Übermut, und wenn sie eines der frechen kleinen Lieder anstimmte, die man bei uns im Ail singt, schimmerte ein ganz unmädchenhafter Glanz in ihrem Blick.«
So heißt es in der Übersetzung von Gisela Drohla, die der Neuausgabe von Tschingis Aitmatows berühmter Novelle zugrunde liegt. Sie erschien in der Reihe »Lieblingsbücher«, grandios gestaltet von Kat Menschik, die den Text nicht lediglich illustrierte, sondern ihm eine Ebene hinzufügen wollte, die unsere Vorstellungskraft weckt. So sehe ich an Djamilas Hand und dem Mund, dass sich in ihr in diesem Moment jene Wandlung vollzieht, die nicht nur Seit, ihren viel jüngeren Verwandten, so bezaubert: Von jugendlichem Übermut, lebensfroher Ausgelassenheit verfällt sie mit einem Mal in sinnenden Ernst. Mal reißt sie sich das Tuch vom Kopf und läuft »mit ausgebreiteten Armen über die frisch gemähte, dämmrige Wiese« – unvergesslich die Szene aus dem Film »Sehnsucht nach Djamila« (1969) – dann wieder blickt sie »lange ins Abendrot, als hätte sie alles auf der Welt vergessen«. Eine noch kaum bewusste Sehnsucht lässt uns der Autor spüren. Und im Bild von Kat Menschik sehe ich auch etwas von mir selbst mit 19 Jahren.
An der Universität Jena unterrichtete uns damals eine Ukrainerin in Russisch. Jung und schön war sie, wir waren alle von ihr bezaubert – und sie liebte das Werk des Kirgisen Tschingis Aitmatow, das ich damals noch nicht kannte. Sie gab uns auf, »Djamila« im Original zu lesen – Aitmatow hat ja russisch geschrieben –, was nur in der Bibliothek des Slawistischen Instituts möglich war. Die Lektüre fesselte mich und fiel mir nicht schwer. Es war November und fast dunkel, als ich auf die Straße trat. Beinahe hat mich ein Auto erfasst.
Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Was hat die Lektüre mit mir gemacht? Mit dieser Frage begann meine Beschäftigung mit Aitmatow und überhaupt mit Literatur. Wie wirkt Literatur auf den Menschen? Für Kat Menschik, einige Jahre jünger als ich, ist die Novelle in der DDR schon Schullektüre gewesen. In ihrer Nachbemerkung zum Buch erinnert sie sich, wie sie »hingerissen« war »von der Kraft und der Wucht der Liebe, die sich über Traditionen und Regeln hinwegsetzt, einfach, weil sie es muss«.
Denn Djamila war eine verheiratete Frau. Und nicht nur das: An der Front verwundet, lag ihr Mann im Lazarett. Ihn zu betrügen, gar zu verlassen, war ein Bruch mit der traditionellen Stammesordnung und zugleich mit der sowjetischen Moral. Der Autor bekam es in seiner Heimat zu spüren. In welchem Maße da Grenzen überschritten wurden, ist mir bei der ersten Lektüre so scharf noch nicht bewusst geworden. Djamila hatte für mich damals nicht mal ein kirgisisches Gesicht. Unwillkürlich bezog ich das Gelesene aufs eigene Leben. Auch Kat Menschik ist es so gegangen: »So bedingungslos muss Liebe sein«, schreibt sie. »So habe ich sie mir damals, glaube ich, gewünscht und vorgestellt.«
Der Triumph der individuellen Liebe war in Europa mit der Epoche der Romantik verbunden. Danijar ist mit einer noch nicht verheilten Verletzung, hinkend, aus dem Krieg zurückgekehrt, erinnert an die romantische Tradition. Ein Sonderling, gedankenvoll, in sich gekehrt, ganz anders als die Burschen im Dorf. Und eines Nachts verzaubert er die Natur mit seinem Gesang. Da gewinnt er auch Djamila. Zuvor muss er nach des Autors Willen eine »Männlichkeitsprüfung« bestehen. Als er mit Djamila und Seit zur Bahnstation fährt, um Korn abzuliefern, schieben sie ihm einen Zwei-Zentnersack unter. Sie erwarten, dass er protestiert, doch er nimmt die Herausforderung an. Schmerzhaft, geradezu lebensgefährlich ist es, wie er mit seinem kaputten Bein die Last über eine schmale Bretterstiege bis unters Dach des Speichers trägt, als wäre es sein Kreuz. Diese beklemmende Szene kennt man ja auch aus dem Film. Bei Kat Menschik aber sieht man keinen Sack, nur nackte Füße auf einem wohl nicht mal fußbreiten Balken, und darunter rieselt das Korn.
Die Novelle spielt im Krieg, »Jede Kornähre für die Front« steht auf einem Transparent an der Sammelstelle. Die Menschen in Aitmatows Geburtsort Scheker sparten sich das Letzte vom Munde ab. Das hat sich tief in sein Bewusstsein gegraben, zumal er mit 14 Jahren Sekretär des Dorfsowjets wurde, weil er als Einziger im Dorf russisch lesen und schreiben konnte. Die erwachsenen Männer waren an der Front, und viele kehrten nicht zurück. Fast ein Kind noch, hatte er die Todesnachrichten auszutragen und einmal sogar vergeblich versucht, selbst an die Front zu kommen.
In »Djamila« ist es noch kaum spürbar, was ihm außerdem auf dem Herzen lag. Sein Vater, ein kommunistischer Parteifunktionär, war von der Verhaftungswelle erfasst worden, mit der Stalin 1937 die Sowjetunion überzog, um etwaige Kritiker loszuwerden. Die Familie wähnte Torekul Aitmatow in irgendeinem Straflager. Erst Anfang der 90er Jahre wurde nahe der kirgisischen Hauptstadt seine Leiche gefunden.
»Djamila« entstand indes in einer für den Autor glücklichen Zeit. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hatte eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen Stalins stattgefunden. Für Tschingis Aitmatow, Sohn eines angeblichen Volksfeinds, war der Weg frei an das renommierte Literaturinstitut »Maxim Gorki« in Moskau. 1958 war »Djamila« dort seine Abschlussarbeit. Alexander Twardowski, Chefredakteur der einflussreichen Literaturzeitschrift »Nowy Mir«, druckte die Novelle. Und nicht nur das: Er sorgte für ihre Popularität, indem er sie dem französischen Schriftsteller Louis Aragon schickte. Der konnte Russisch, denn er war mit Elsa Triolet verheiratet, der Schwester von Lilja Brik, die als Geliebte des Dichters Wladimir Majakowski eine »Muse« der russischen Literaturszene gewesen ist. Aragon hat die Novelle ins Französische übersetzt und ihr zudem ein Gütesiegel verpasst, das den nicht mal 30-jährigen Autor auf den Olymp der Weltliteratur hob.
»Die schönste Liebesgeschichte der Welt«: Vielen ging es so wie Kat Menschik und auch mir, dass sie zunächst die eigentliche Hauptgestalt unterschätzten – Seit, den seine unerfüllbare Liebe zur Schwägerin zum Künstler reifen ließ. Aus ähnlichem Grund wurde auch Aitmatow zu seiner Novelle inspiriert. Aber das erfuhr man erst nach seinem Tode 2008. »Er malt und zeichnet die Welt«, schreibt Kat Menschik. »Beim Zeichnen und Malen übersetzen wir Gefühle und Stimmungen in Bilder. Das tat er, der junge Erzähler. Das gelingt mir, im besten Fall.«
Da durften wir dabei sein, als der berühmte Regisseur Baktybek Karagulow einen Film über die realen Personen drehte, die Tschingis Aitmatow zu seinen frühen Novellen und Erzählungen inspirierten. Später habe ich dem Film »Djamilas Töchter« eine deutsche Fassung gegeben, die nun im Haus am Franz-Mehring-Platz Premiere haben wird. Und Kat Menschik ist dabei. Sie war noch nie in Kirgistan, aber wie sie die Landschaft gemalt hat, in der »Djamila« spielt, so sieht es wirklich dort aus.
»In der Erzählung geht es um Sommer, Hitze, Trockenheit, Düfte, Nachthimmel, Wiesen Kornfelder und Ernte«, schreibt Kat Menschik. »Und es geht um Gesang. Danijar, der versehrte Kriegsteilnehmer, singt das alles… Nirgendwo sonst habe ich Gesang so grandios in Worten beschrieben gelesen, dass man meint, man höre gerade zu. Dass man meint, man schmecke die Sommerluft. Dass man sich wünscht, so etwas auch einmal erleben zu dürfen. Vielleicht ist das der Zauber dieser Geschichte.«
Tschingis Aitmatow: Djamila. Die schönste Liebesgeschichte der Welt. Illustriert von Kat Menschik. Übersetzung Gisela Drohla. Verlag Galiani Berlin. 112 S., geb., 20 €.
Veranstaltung mit Kat Menschik und dem Film »Djamilas Töchter« am 28. Juni, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1.
Reise nach Kirgistan 4. Bis 14. September 2022. leserreisen@nd-online.de, Tel: (030) 2978 1620
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