Die große Begriffsverwirrung

Wenn keiner »rechts« sein will, was ist dann eigentlich noch »links«?

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 7 Min.

Hand aufs Herz: Kennen Sie einen Menschen, der sich als »rechts« bezeichnet? Ich meine nicht jene Springerstiefelträger, die es nie verwunden haben, dass die Nazis den Krieg verloren. Nein, ich denke an jene streitbaren und streitlustigen Wesen, die man vor 40, 50 Jahren, zu Zeiten von Franz-Josef Strauß und Alfred Dregger, als »reaktionäre Knochen« oder »Erzkonservative« bezeichnete. Es waren Charaktere, mit denen man durchaus kurzweilige Abende im Biergarten verleben konnte, solange man nicht den Fehler machte, das Gespräch auf Politik zu bringen. Dann wurde von denen der »linke Zeitgeist« auseinandergenommen, und aus war’s mit der Gemütlichkeit! Solche Leute bezeichnen sich heute gern als »bürgerlich-liberal« oder »wertkonservativ«.

Das böse Wort »rechts« aber kommt ihnen nicht über die Lippen. Und auch nicht denen, die heute die AfD unterstützen. Stattdessen bedient sich diese Partei auf dem Weg in die Faschisierung eines Begriffs, der viele Jahre lang Eigentum der politischen Linken war: »alternativ«. Die letzte nominell »alternative« Partei, die vor der AfD im Parlament saß, waren die Hamburger Grünen, die sich bis 2012 Grün-Alternative Liste (GAL) nannten.

Doch wo keiner sich als rechts bezeichnen will, ist viel Platz, sehr viel Platz für linke Selbstzuordnungen. Dies liegt daran, dass Linke seit den 1960er Jahren einen mächtigen Verbündeten haben: die Popkultur. Links waren Bob Dylan und Joan Baez, waren Aretha Franklins »Respect« und Marvin Gayes »What’s going on«, waren Tuli Kupferberg und Rolf Dieter Brinkmann, waren die sexuelle Revolution und »Revolution No. 9«, war John Lennons und Yoko Onos »Bed-in for Peace«, waren die Filme »Die Reifeprüfung« und »Easy Rider«, waren Jimi Hendrix’ Gitarrenexzesse und Janis Joplins Urschreie. »Rebellion ist gerechtfertigt«, sprach damals Mao Zedong, und die Helden der Popkultur – von Aretha bis Zappa – pflichteten ihm bei.

Links war das andere bessere Leben jenseits von Elternhaus und Schule. Denn links lockte mit Drogen und Beischlaf, mit Aufruhr und Abenteuer. Links bedeutete jung zu sein und die alten autoritären Säcke das Fürchten zu lehren. Man identifizierte sich mit dem jugendlichen Che Guevara und den Kaufhaus-Brandstiftern Andreas Baader und Gudrun Ensslin, einer frühen Bonnie & Clyde-Version der BRD. Dass links auch Leonid Breschnew und Erich Honecker waren, blendete man im Westen geflissentlich aus. Und die Wenigen, die das nicht taten, labten sich am Grau des Ostens, gerade weil dieser so unspektakulär war, scheinbar frei von Kommerz und Konkurrenz. Doch die DDR war für die westdeutschen Linken Ausland. Und die DKP als ihre ständige Vertretung war politisch bedeutungslos. Zu allem Übel bekamen ihre Mitglieder auch noch Berufsverbot, wenn sie als Beamte bei Wahlen kandidieren wollten.

Überhaupt wurde in den 70ern links dann fürchterlich verkniffen. Wer sich die Laune ruinieren wollte, trat einer K-Gruppe oder den Jusos bei. Dort theoretisierte man sich wirr, zerstritt sich über Mao und Moskau oder den staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) und vergaß darüber das wirkliche Leben. Das kehrte dann mit der Umweltschutzbewegung zurück. Es war die Angst vor Atomkraftwerken, die die Grünen Anfang der 80er in die Parlamente brachte. Viele hielten sie für ein linkes Projekt, nicht zuletzt deshalb, weil die »reaktionären Knochen« sie verdammten. Parallel erfand sich die Popkultur und damit auch die Linke, die auf sie abfuhr, einfach neu: Erst Punk, dann Wave und schließlich Pop als Idee des Glamours für alle.

Diese Wandlungsfähigkeit hat die Linke anderen politischen Bewegungen voraus. Wer sich als Libertärer oder Konservativer definiert, bewegt sich in einem vergleichsweise engen gedanklichen Radius. Da kann es schon mal zu dialektischen Verrenkungen kommen, wenn etwa Konservative die Notwendigkeit von Veränderungen begründen müssen.

Links hingegen kann alles sein. Für viele ist es nur ein Lebensgefühl: das Bewusstsein, auf der richtigen Seite der Gesellschaft zu stehen, ohne dass man die Schriften des westlichen Marxismus auch nur aus der Ferne angeschaut, geschweige denn angerührt hätte. Am Kneipentresen bezeichnen sich sogar die Schönheitschirurgen und Makeup-Künstler des Kapitalismus als links: Werber und Marketingleute. Es ist eine Art Reinwaschung, die bei diesen Feierabend-Linken stattfindet. Wenigstens in der Freizeit distanziert man sich von einer Wirtschaftsordnung, die nicht unbedingt mit ethischen Werten punktet.

Für manche hingegen ist »links« eine hochdiffizile politische Theorie, über die man sich bevorzugt mit anderen Linken in die Haare gerät. Das Sammelbecken, in dem sich Linke tummeln, war schon immer ziemlich groß und unübersichtlich und hatte zahlreiche Nischen. Um die Sache noch weiter zu verkomplizieren, werden auch Menschen vereinnahmt, die sich nicht als links charakterisieren. Gern betreiben Linke großzügig politische Eingemeindungen. Denn links sein heißt eben auch: Für die Schwachen sein – und derer gibt es viele. Deshalb können diskriminierte Gesellschaftsgruppen, die gleiche Rechte einfordern, damit rechnen, in die große linke Bewegung eingereiht zu werden. Für die Emanzipation von Minderheiten einzutreten, gilt per se als links.

Was dabei oft übersehen wird: Diskriminierte verfolgen logischerweise ihre eigenen Interessen. Die Schwulenbewegung ist hierfür ein gutes Beispiel. Ihr Kampf für Gleichberechtigung war nur in den Gründertagen mit Forderungen nach einer anderen Gesellschaftsordnung verbunden. Heute gilt: »Kommunismus? Gott behüte! Wir wollen kirchlich heiraten!«. Als Homosexueller Vorsitzender der FDP zu sein, war schon vor Jahrzehnten kein ideologischer Widerspruch mehr. Und spätestens als Jens Spahn seine Karriere in der CDU durchstartete, hatte sich die Gleichsetzung von schwul und links endgültig erledigt.

Was Spahn vergessen hat: Er verdankt es linken Parteien und linken Aktivisten, dass er heiraten durfte und Karriere machen konnte bei einer Partei, die über Homosexuelle einst die Nase rümpfte und die »Ehe für alle« bekämpfte. Hierin offenbart sich ein Paradox linker Politik: Jene, die von ihr profitieren, wenden sich von ihren früheren Fürsprechern ab. Die Schwachen von einst haben meist kein Interesse daran, sich mit den Schwachen von heute zu solidarisieren.

Man kennt es aus der Kulturszene: Wo um öffentliche Gelder gebuhlt und gelobbyt wird, wird aus dem Miteinander der verschiedenen Initiativen schnell ein Gegeneinander. Längst findet ein Wettbewerb zwischen Diskriminierten statt. Dieser kann, wie zwischen Muslimen und Juden, die Form von Hass annehmen. Der Angriff der Feministin Alice Schwarzer auf Transgender zeigt, was passiert, wenn ältere und jüngere Diskriminierte sich spinnefeind werden. Und der nächste Konfliktherd brodelt bereits: Die Diskussion über Intersektionalität, also Mehrfachdiskriminierung, wird dann an Schärfe gewinnen, wenn einfach Diskriminierte befürchten, gegenüber mehrfach Diskriminierten ins Hintertreffen zu geraten.

Das ist dann der Punkt, an dem die Verschwommenheit und Vagheit, was Linkssein heute bedeutet, zum Problem wird. Der einst gemeinsame Nenner – für die Schwachen einzutreten – wird in dem Moment zum Spaltpilz, in dem man sich nicht mehr darauf verständigen kann, wer die Schwachen eigentlich sind. Genau das erlebt derzeit die Linkspartei. Nachdem sich ihre Träume, bundesweit mitregieren zu dürfen, erledigt haben, zofft sie sich darüber, welche gesellschaftlichen Gruppen am dringendsten Unterstützung benötigen.

Ich oder wir? In der individualistischen Identitätspolitik schlummert eine selbstzerstörerische Kraft, eine Überbietungslogik, wie man sie aus unseligen K-Gruppen-Zeiten kennt. Im Bemühen, jedem einzelnen diskriminierten Personenkreis Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihn also isoliert zu betrachten, geht der Blick fürs Ganze verloren. Wo nur noch zählt, wer seine jeweiligen Partikularinteressen am besten kommuniziert und durchboxt, entpuppt sich die gern gepredigte »Solidarität« als hohle Phrase.

Da wird es Zeit für eine Rückbesinnung auf die linken Wurzeln. Und die liegen bei Karl Marx. Als dieser 1848 sein Kommunistisches Manifest verfasste, unterschied er nicht zwischen Geschlechtern, Religionen und Nationen. Für ihn gab es nur die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Vielleicht würde es helfen, an dieser Stelle noch einmal neu zu beginnen?

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