Irgendetwas ist immer schon da

Auf dem Mond laufen, auf Keyboardtasten drücken und Amy Winehouse würdigen: In Berlin feierte die Reihe »Ich brauche eine Genie« den 5. Geburtstag

  • Kristof Schreuf
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie Bikini Kill 1993, irgendwie: Sandra und Kersty Grether
Wie Bikini Kill 1993, irgendwie: Sandra und Kersty Grether

Vor dem Festsaal Kreuzberg in Berlin streckt sich am Mittwochabend eine von der Sonne verbrannte Wiese aus. Auf dem strohfarbenen Gras verteilen sich Paare, die wenig reden, viel knutschen und zwischendurch verträumt dem auf der Puschkinallee vorbeifließenden Verkehr zuschauen. Eine wesentlich wortfreudigere Stimmung breitet sich dagegen im Biergarten des Festsaals aus, wo Kersty Grether und ihre Schwester Sandra Grether zusammen mit Gästen das fünfjährige Jubiläum ihrer Veranstaltungsreihe »Ich brauche eine Genie – Popkultur, Feminismus, Spaß & so« feiern.

Den Abend eröffnen die Gastgeberinnen mit neuen Stücken ihrer immer wieder erstaunlichen Band The Doctorella, die auf dem nächsten Album erscheinen werden, darunter auch das witzige »Wenn wir tot wären«, dessen Text eine ziemlich gute Frage stellt: »Wenn wir tot wären, / Wo wären dann unsere Lieder? / Würde irgendwer sie immer wieder hören oder / würden sie nur beim Prokrastinieren störn?« Mit Sandra Grether an der Gitarre, Kersty Grether am Keyboard und einem Schlagzeug entwickeln The Doctorella live die phänomenal aufstachelnde Energie der amerikanischen Riot-Grrrl-Band Bikini Kill um 1993. Beide Grethers singen wie eine selbstbewusste Francoise Hardy, die dabei so lässig erzählend klingt wie Dirk von Lowtzow von Tocotronic.

Danach spielt und singt sich Katharina Kollmann, die sich als Künstlerin Nichtseattle nennt, mit Stimme und Gitarre durch ihre Lebens- und weitere Geschichten. Das Publikum hört gespannt zu, weil Nichtseattle treffende Formulierungen findet, etwa für die Erfahrung, dass die Vergangenheit sich so oft an der Gegenwart jeder Einzelnen klammert: »Irgendetwas ist immer schon da.«

Juliane Streich ist Journalistin, schreibt an einem Roman und hat 2019 den Sammelband »These Girls – Streifzüge durch die feministische Musikgeschichte« sowie nun dessen Fortsetzung mit dem super Titel »These Girls, too« herausgegeben. Nach dem Auftritt von Nichtseattle erzählt sie die sympathische Geschichte ihrer früheren Band Toff. Die gründete sich, als die damals 13-jährige ein Keyboard bekam, das eine Zeitung ihren Eltern als Belohnung für den Abschluss eines Abonnements zugeschickt hatte. So wurde Streich Musikerin. Eines ihrer ersten Stücke handelt von der Verrichtung ihrer Notdurft. Dessen Vertonung durch Toff stellte kein Problem dar. »Es genügte, an dem Keyboard eine Taste zu drücken«, sagt Streich auf der Bühne, »dann spielte eine Melodie los, zu der ein paar Freundinnen zusammen – eine allein hätte sich nicht getraut – meinen Text übers Kacken sangen.« Es lässt sich ergänzen, dass Streichs »Klolied« allemal das lyrische Niveau von »Die Scheiße« von Hans-Magnus Enzensberger erreicht.

Statt von inneren Bewegungen lässt sich Zustra im Anschluss von äußeren Umgebungen inspirieren. Die Sängerin arbeitete früher im Großraumbüro einer Zeitungsredaktion, bis sie sich von dort an andere Orte träumte, darunter auch das von Vulkanen und Geysiren durchzogene Island. Die schaute sich Zustra dann mit nur wenigen anderen Reisenden zu der Zeit an, als gerade die Corona-Pandemie begonnen hatte. Sie habe den Eindruck bekommen, berichtet Zustra bei ihrer Einleitung, »nie wieder so nah an der Atmosphäre dran zu sein, wie sie auf dem Mond herrschen muss«. Danach singt sie »Walking on the moon«, ein Stück dunklen, erhebenden, die Einsamkeit seiner Hörer*innen überwindenden Große-Gesten-Pops.

Den Schlusspunkt des unterhaltsamen, anregungsgreichen Abends setzt dann Kersty Grether. »Ich schreibe aus zwei Gründen über Musik«, erklärt sie, während sie mit dem Mikrophon über die Bühne flaniert. »Zum einen, weil es Künstlerinnen gibt, über die noch nicht geschrieben wurde oder die noch nicht bekannt sind. Zum anderen über Künstlerinnen, über die vermeintlich alles gesagt wurde. Denn das weckt meinen Ehrgeiz, mir deren Werk nochmal anzuhören und 42 bis 178 weitere Aspekte darin zu entdecken, die ein völlig neues Bild ergeben.«

Dass dieses neue Bild den Unterkiefer des männlichen Betrachters beziehungsweise Lesers herunterfallen lassen kann, führt Grether prompt vor, indem sie ihren Essay zu der verstorbenen Sängerin Amy Winehouse vorliest. Grether zeigt darin anschaulich, dass Musikkritiker zwar enthusiastisch und ausgiebig Winehouses Stimme bejubelten. Aber die vielen Komplimente für ihre Intonation sollten nicht zuletzt auch davon ablenken, dass Winehouse sich mit ihrer akustischen Gitarre hinsetzte und ihre Stücke selbst schrieb. Die Songwriterin Winehouse fanden Kommentator*innen offenbar zu begabt, um sie zu erwähnen. Dass sie nur, wenn auch eindrucksvoll, weitergab, was doch wahrscheinlich andere ihr an Akkorden, Arrangements und nicht zuletzt an Worten soufflierten, passte halt einfach besser zum tradierten Rezeptionsnarrativ.

»Ich brauche eine Genie«: Nach einem solchen Abend ist auch klar, dass wir solche Texte, Erzählungen und Veranstaltungen von Kersty Grether und Sandra Grether brauchen.

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