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Kindliche Fetischisten
Typisch Sommer (8): Fanta: Ein sattes, fettes Orange, das einst den Sommer des Lebens versprach
Natürlich wird der Kapitalismus untergehen. Aber ganz anders als Karl Marx sich das vorgestellt hat. Wo sollten in Zeiten vollautomatisierter Fertigungsstraßen auch die Arbeitermassen herkommen, die die Barrikaden stürmen! Und die Angestellten? Von Weißhemdenträgern, denen in Workshops jahrein, jahraus »Teambuilding« und »lösungsorientierte Kommunikation« gepredigt wird, kann man schwerlich erwarten, dass sie eine Revolution anzetteln, geschweige denn gewinnen.
Nein, der Kapitalismus wird untergehen, weil er seinen ureigensten Wesenszug verleugnet: den Warenfetisch. Hierbei geht es – einfach ausgedrückt – darum, dass industriell gefertigte Waren wie religiöse Insignien verehrt werden. Kinder wissen, was gemeint ist. Denn niemand praktiziert den Warenfetischismus inbrünstiger als sie, die minderjährigen Konsumenten. Dabei legen sie eine Marken- und Produkttreue an den Tag, von der Hersteller sonst nicht zu träumen wagen. Ein Kind, das Schokoladeneis liebt, wird immer Schokoladeneis bestellen – selbst, wenn die Auslage noch 30 andere Sorten bietet.
Früher, in den Zeiten des gemütlichen Rheinischen Kapitalismus, wie er in der Bundesrepublik bis in die 80er hinein vorherrschte, waren sich selbst internationale Konzerne dessen bewusst. Über Jahrzehnte hinweg beschränkte sich das Milka-Sortiment auf Schokolade in Tafelform. Davon gab es ganze sechs Sorten, darunter einen Exoten wie Mokka. Noch konsequenter war Coca-Cola. Die Marke Fanta existierte in nur einer Geschmacksrichtung: Orange. Wer Zitronenlimo wollte, musste zu Lift greifen. (Heute wird unter diesem Namen eine Apfelschorle verkauft, was für Ältere etwas verwirrend ist.)
Das einzige Zugeständnis, das der Coca-Cola-Konzern machte, waren Anpassungen des Geschmacks an den landestypischen Gaumen. So schmeckte die spanische Fanta anders als die deutsche. Intensiver, urlaubiger. Sie sah sogar anders aus. Als hätten die spanischen Fanta-Alchimisten ihrer Brause noch ein paar Extra-Zusatzstoffe spendiert. Auf dass die Farbe richtig leuchtete. Ein sattes, fettes Orange, das den Sommer des Lebens versprach. Ein Land, das eine solche Limonade komponierte, musste ein Schlaraffenland sein.
Viele Jahre später erfuhr ich, dass damals, im Sommer 1975, in Spanien noch ein Diktator namens Franco regierte. Doch gegen glückliche Kindheitserinnerungen, die sich biochemisch ins Unterbewusstsein eingebrannt haben, kommen selbst solche harten Fakten nicht an.
Was dagegen hilft: die sogenannte Produktdiversifizierung. Ein Hersteller erweitert sein Sortiment, um andere Zielgruppen zu erreichen. Deshalb gibt es Milka mittlerweile auch als Donut, Keks, Pudding, Joghurt, Eis und Haselnusscreme und sogar als Frischkäse. Das ist kurzfristig gut für die Kasse und langfristig schlecht für die Marke. Denn wer seinen Bauchladen sperrangelweit öffnet, darf sich nicht wundern, wenn er irgendwann nur noch als Bauchladenverkäufer wahrgenommen wird.
So wie Fanta. Die gibt es mittlerweile weltweit in über 70 Geschmacksrichtungen. Dank dem Internethandel kann man per Klick selbst in den Genuss fernöstlicher Sorten wie Muscat, Frozen Sherbet und Cream Soda Kem Trai Cay kommen. Aber auch die deutschen Lebensmittellaboranten lassen sich in puncto Exotik nicht lumpen. Bei »Limited Editions« wie Piña de Coco müssen Konsumenten erst mal schlucken. Hier eröffnen sich synthetische Geschmackswelten, auf die man gern verzichtet hätte. Fantastisch ist hier schon lange nichts mehr. Stetig länger wird die Liste der Sorten, die sang- und klanglos vom Markt genommen werden. So ist Fanta zur Ex-und-hopp-Marke geworden.
2015 flackerte noch einmal kurz Hoffnung auf. Die Fanta Klassik in der Original-70er-Jahre-Flasche erinnerte einige Schlucke daran: »So schmeckt der Sommer!« Ach nein, das war Langnese.
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