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Ein Duft, der aus der Armut führt
Eine Initiative in Bolivien bietet Familien den Einstieg in den Oregano-Anbau an. Für sie kann das ein neues Standbein sein
Die Verarbeitungsanlage ist von einer roten Backsteinmauer umgeben. Mühsam öffnet der Wachmann das schwarze Metall-Schiebetor. Wir müssen uns zunächst einer genauen Reinigungsprozedur unterziehen: Desinfektionskabine, Schuhrost, Hände waschen. »Das ist nicht nur gegen das Coronavirus sinnvoll, sondern soll jegliche Art von Kontamination des Oregano vermeiden«, sagt Jesús, der Generaldirektor von Unec. So viel Hygiene ist im landwirtschaftlichen Bereich etwa im Vergleich zum medizinischen eher unüblich. Aber Jesús betont, dass ein hoher Qualitätsstandard wichtig ist, um einen angemessenen Preis für das Produkt zu erzielen.
Unec ist eine Handelsorganisation für Gewürzmittel mit Sitz in Sucre, der alten Hauptstadt Boliviens. Die Organisation besteht aus fünf Agrarkooperativen, in der 1850 Kleinproduzent*innen organisiert sind, 60 Prozent Männer und 40 Prozent Frauen. Die Anbaufläche für Oregano beträgt insgesamt 465 Hektar, das bedeutet etwa ein Viertel Hektar oder 2500 Quadratmeter pro Familie. Damit können die Mitglieder der Kooperative fast zwei Drittel ihres Einkommens generieren. Für die Kleinbäuer*innen bedeutet dies eine Verbesserung ihrer Ernährungssicherheit, denn mit dem Oregano-Geschäft können sie sich zusätzliche Grundnahrungsmittel und Saatgut für ihre Subsistenzwirtschaft leisten. Außerdem erhalten sie nun einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung.
Tomina ist ein gar nicht so kleines Dorf in den Valles, den subtropischen Tälern im Übergangsgebiet zwischen dem Andenhochland im Westen Boliviens und den trockenen und weiten Ebenen des Amazonas-Tieflandes im Osten des Landes. Hier, auf 2000 Metern Höhe und rund 150 Kilometer von Sucre entfernt, hat Unec seine Oregano-Verarbeitungsanlage errichtet. Dort sind die Anbaubedingungen für Oregano aufgrund der stabilen thermischen Bedingungen optimal. Weitere landwirtschaftliche Produkte Boliviens sind Quinoa und Kartoffeln, die meist im Andenhochland angebaut werden, sowie Zuckerrohr und Kakao, die am besten im heißen Amazonas-Tiefland gedeihen.
Die Aufzucht der Oregano-Pflanzen findet in einer Reihe von Gewächshäusern statt. Auf den zweiten Blick sieht man, dass die Pflanzenreihen sich hinsichtlich ihrer Größe, Form und Farbe unterscheiden. In der großen Freilufthalle sitzen mehr als zehn indigene Frauen und stecken Setzlinge in Pflanzkästen oder schneiden sie zu. Gladis, die Gruppensprecherin, erklärt: »Damit wir die Löcher für die Pflänzchen nicht mehr einzeln vorbohren müssen, hat unsere Werkstatt uns ein Handwerkzeug gebaut, das gleich alle 25 Löcher vorstanzt.« Jesús ist stolz auf die Werkstatt. »Sie entwickelt Werkzeuge und kleine Maschinen angepasst an unsere Bedürfnisse. Das macht uns unabhängig.«
Gladis erzählt, dass außer der Farbe auch der Geruch der Oregano-Pflanzen unterschiedlich ist. Um eine spezielle Mischung zu erzielen, werden die Pflanzen jeweils neu gemischt. »In Kanada möchte man eine andere Duftnote haben als in Spanien«, erläutert Juan. Er arbeitet bei Endev (Energising Development), einem internationalen Programm für alternative Energie, an dem unter anderem Norwegen, die Niederlande und Deutschland teilnehmen. Endev unterstützt die Kooperativen finanziell und hat in die Stromversorgung der Verarbeitungsanlage sowie in Solarmodule für die Bäuer*innen investiert.
Unec hat bislang Absatzmärkte für das geerntete Oregano in Kanada und den USA geschaffen, sowie im südlichen Europa in Spanien und Italien. In Deutschland gibt es das Gewürz der Kooperative nicht zu kaufen. »Da erfüllen wir noch nicht die Qualitätsstandards der DIN-Norm«, erläutert Jesús. »Aber die erreichen wir auch noch«, gibt er sich zuversichtlich. In Bolivien zählen Agrarprodukte zu den wichtigsten Exportgütern. Nach Erdgas und Bergbauerzeugnissen wie Zinn und Silber sind landwirtschaftliche Erzeugnisse mit etwa zehn Prozent der drittgrößte Posten der bolivianischen Ausfuhren.
Die Verarbeitung des geernteten Oregano findet in einer geschlossenen Halle statt. Erneut ist eine Reinigungsprozedur fällig, zusätzlich müssen Overall und Kopfhaube getragen werden. Eine große Maschine mischt die verschiedenen Oregano-Sorten. Es ist staubig und laut in der Halle, die Mitarbeiter*innen tragen Schutzmasken und Ohrenschützer. In einem anderen Hallenabschnitt werden die Säcke durch einen Metalldetektor geschickt, um sie nach Verunreinigungen zu durchsuchen. Schlägt die Kontrollanlage an, müssen diese Säcke aussortiert und gesondert gelagert werden. Die unbeanstandeten Säcke werden dagegen mit einem Detektor ein weiteres Mal geprüft, bevor sie in den Versand gehen.
Alle Mitglieder der Kooperative erhalten kostenlose technische Hilfe und zinsgünstige Kredite für Dünger, Ausrüstung und Werkzeug. Für ihren Oregano bekommen sie einen festen Preis und eine garantierte Abnahme, unabhängig davon, wie der Weltmarkt sich entwickelt und zu welchen Konditionen Unec an seine internationalen Partner liefert. »Wenn durch die Corona-Pandemie auch der internationale Markt geschrumpft ist, sind die Einkünfte von Unec und damit auch der Kooperativen-Mitglieder stabil. Um das weiter zu garantieren, nehmen wir an internationalen Ernährungsmessen teil und lassen die Pflanzen durch akkreditierte internationale Labore untersuchen«, sagt Jesús.
Der eigentliche Anbau des Oregano findet auf den Äckern der Kooperativen-Mitglieder statt. Etwas außerhalb von Tomina und über eine Sandpiste zu erreichen, lebt Gilberto. Er empfängt uns am Tor und führt uns an seinem Mais vorbei, der nicht für den Export bestimmt, sondern zur Selbstversorgung dient. Auf einem Viertel seines Grundbesitzes baut er Oregano an. Gerade diese Mischung aus Subsistenz- und Exportprodukten macht das Projekt von Unec schlüssig. Denn damit haben die kleinbäuerlichen Familien ein zweites Standbein und bleiben doch ihrer traditionellen Maiskultur verbunden, die tief in der indigenen Kultur verankert ist. Allein 77 Maissorten gibt es hier.
Am Feldrand hängt an einem in den Boden gesteckten Eisenstab eine kleine Lampe. »Damit überwache ich die Bewässerung des Maisfeldes«, klärt uns Gilberto auf. »Die Wasserzufuhr wird eingeteilt. Ich habe mich für nachts entschieden. Da ist die heiße Sonne weg. Das tut den Pflanzen und mir gut.« Juan strahlt, denn die Lampe entpuppt sich als solarbetrieben. Eine Initiative von Endev.
Bald sieht man eine kleine Hütte. Sie ist aus Adobe – in der Sonne getrockneten, von den Bäuer*innen selbst geformten Lehmziegeln – gebaut. »Das Plastikdach steuert dann Unec bei«, erzählt Jesús. Gilberto schließt die Tür auf und zeigt den Trocknungsraum für das Oregano. Die Luft ist schwül-warm. Auf einfachen Holzgestellen liegen die Oregano-Stängel. Nach der Ernte auf dem Feld werden sie hierher gebracht und müssen wenige Tage trocknen. »Wichtig ist, nicht zu lange zu warten, da sonst der Oregano braun wird, dann lässt er sich fast nicht mehr verkaufen. Sind die Kräuter gut getrocknet, muss ich mit einem Holzstecken die Blätter vom Stängel schlagen«, sagt Gilberto. »Das ist zwar etwas mühsam, aber man braucht so keine aufwendigen Maschinen«, erklärt Juan.
Gilberto zeigt, wie der Boden zu bearbeiten ist. Mit einer Hacke lockert er geschickt den Bereich rund um die Pflanzen. Die Erde ist mager und durchlässig. Besonders nährstoffhaltig muss sie nicht sein. Auch viel Feuchtigkeit ist nicht nötig, Oregano kann eher trocken gehalten werden. »Manchmal gibt es Schädlinge, dann muss man Pestizide verwenden, aber nicht mehr ab zwei Wochen vor der Ernte, damit keine Rückstände bleiben«, sagt Gilberto. »Wir prüfen auch das natürlich vor dem Versand«, versichert Jesús. Ökologischer Anbau wird noch nicht betrieben. Das Bewusstsein muss dafür offenbar erst noch geschaffen werden.
Gilberto hat es nicht bereut, mit dem Oregano-Anbau angefangen zu haben. Der sei eine tolle Sache, versichert er. Vor allem als Ergänzung zum Mais. »Oregano hat drei Ernten pro Jahr und es gibt ja die Abnahmegarantie, wenn die Qualität stimmt.« Den Familien kommt außerdem entgegen, dass der Anbau ähnlich einfach ist wie bei Mais.
Das Beispiel von Gilberto zeigt, dass die Mitgliedschaft in der Produktionsgemeinschaft und der Oregano-Anbau zu wachsendem Wohlstand führen kann. Aber nicht alle seine Nachbar*innen sind diesen Weg mitgegangen und haben sich teilweise von der traditionellen Subsistenzwirtschaft gelöst – weil sie offenbar Angst vor Veränderungen haben. Aber sie können noch einsteigen. Die Kooperative steht ihnen weiterhin offen, sie hat noch Potenzial zu wachsen.
Und wenn Unec den Import nach Deutschland schafft, dann hat die Pizza vielleicht auch bald in Berlin oder Bamberg den besonderen Duft von Aufbruch und Selbstbestimmung in Bolivien.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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