- Politik
- Energiekrise
»Europa saugt Gas aus der Welt«
Der Westen macht sich unabhängig von Russland – im Globalen Süden produziert das Krisen
Inmitten der globalen Energiekrise hatte Italiens Regierung diese Woche einen Erfolg zu vermelden: Das Land reduziert seine Abhängigkeit von russischem Gas, sein Anteil an den Lieferungen ist von 40 Prozent zu Jahresbeginn auf nur noch 25 Prozent gesunken. Italien bezieht nun mehr Gas aus Afrika und weniger aus Russland. Denn »wir dürfen uns solche geopolitischen Abhängigkeiten nicht länger leisten«, erklärte Ministerpräsident Mario Draghi, der kommende Woche nach Algerien reisen wird, das inzwischen Italiens wichtigster Gaslieferant ist. »Wir reagieren schnell.«
Erdgas steht im Zentrum eines Wirtschaftskrieges zwischen Russland und dem Westen. Der Gaspreis ist in den vergangenen Monaten rasant gestiegen. Denn zum einen ist die Nachfrage groß, zum anderen das Angebot gefährdet: Die Angst geht um, Russland könnte Lieferungen dauerhaft drastisch reduzieren. Um sich geopolitisch und ökonomisch unabhängig von Moskau zu machen, sucht nicht nur Italien fieberhaft nach neuen Quellen für Flüssiggas (LNG). »Europa saugt LNG aus der ganzen Welt«, erklärte jüngst Steve Hill, Vizechef von Shell. »Das aber bedeutet, dass weniger LNG in die Entwicklungsländer geht.« Denn diese Länder können es sich nicht mehr leisten.
Laut Finanzagentur Bloomberg ist Europas Nachfrage nach LNG dieses Jahr bislang 50 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum – und sie zeigt keinerlei Anschwächung. Immer neue Gastanks werden gebaut oder bestellt, um sich von den russischen Pipelines unabhängig zu machen. Für den Westen ist das teuer – im Juni lagen die Energiekosten der privaten Haushalte in der EU und den USA um rund 40 Prozent höher als Mitte 2021. Profiteure sind dagegen die Energieunternehmen: Die börsennotierten Aktiengesellschaften der Branche dürften ihre Gewinne im 2. Quartal 2022 verdoppelt bis verdreifacht haben.
Für viele Länder des Globalen Südens, die ihre Energiesysteme um das ehemals billige Gas konstruiert haben, wird die Rechnung damit unbezahlbar. In Nordasien stieg der Marktpreis für LNG im Juni um rund 50 Prozent und lag damit drei Mal so hoch wie drei Jahre zuvor. »Jedes Molekül, das in unserer Region erhältlich war, ist von Europa gekauft worden«, zitiert das Wall Street Journal den pakistanischen Ölminister Musadik Malik.
Die Folgen sind verheerend. Myanmar hat bereits Ende vergangenen Jahres seine LNG-Käufe gestoppt. In Bangladesch werden Strom rationiert, Arbeitszeiten gekürzt und Klimaanlagen heruntergefahren. Auch in Thailand mussten die Gasimporteure ihre Käufe angesichts der hohen Preise und des mangelnden Angebots senken. Zum Ausgleich wurde diese Woche angekündigt, schmutzige Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen und wie Bangladesch vermehrt Diesel zu nutzen – mit entsprechenden Folgen für die CO2-Emissionen.
Besonders hart ist die Situation in Pakistan, wo laut Regierungsangaben ein Viertel der Kraftwerke mit Gas betrieben werden. Während Europa seine LNG-Einfuhren um 50 Prozent steigerte, fuhr das Land seine Importe um 15 Prozent zurück. Fabriken und Shoppingmalls müssen auf Anweisung früher schließen, Staatsbediensteten wurde die Arbeitszeit gekürzt. Vergangene Woche versuchte die Regierung, für eine Milliarde Dollar zehn Ladungen LNG auf dem Weltmarkt einzukaufen – doch sie erhielt zu dem Preis kein einziges Angebot. Die Lieferanten verkaufen lieber nach Europa, wo sie mehr für ihr Gas bekommen. Das lohnt sich für sie selbst dann, wenn sie vertraglich zur Lieferung verpflichtet sind und Pakistan daher eine Vertragsstrafe zahlen müssen.
Im Fiskaljahr, das im Juli endet, wird Pakistan voraussichtlich fünf Milliarden Dollar für LNG ausgeben müssen, doppelt so viel wie im Vorjahr. Für anderes fehlt das Geld, das Land hängt am Internationalen Währungsfonds (IWF), der das Land mit Krediten über Wasser hält. Dafür fordert der IWF Sparmaßnahmen – so soll Pakistan die Energiesubventionen für Treibstoff und Elektrizität senken. Denn die Hilfen der Regierung hätten »die inländische Nachfrage auf nicht nachhaltige Niveaus gesteigert«, kritisierte der Fonds diese Woche. Dies treibe die Schulden des Landes in die Höhe und zehre an seinen Dollar-Reserven. Insbesondere der Energiesektor müsse seine finanzielle Lage verbessern durch »Anpassung« seiner Preise, sprich: durch Preiserhöhungen. Ähnliche Forderungen stellt der IWF an das hochverschuldete Ägypten, wo ein Drittel der Menschen als arm gilt.
Damit stehen diese Länder nicht nur vor einer Energiekrise, sondern vor einer sozialen Krise und einer Finanzkrise. Ähnlich wie Sri Lanka, das bereits im Mai seine Auslandsschulden nicht mehr bedienen konnte und wo die Bevölkerung angesichts explodierender Lebenshaltungskosten die Regierung aus dem Amt gejagt hat.
An den Finanzmärkten gilt derzeit eine ganze Reihe von Ländern des Globalen Südens als pleitegefährdet: von Pakistan und Laos über Äthiopien, Ghana, Kenia und Tunesien bis Ecuador, El Salvador oder auch Argentinien, wo zehn Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, die Inflation 70 Prozent überschritten hat und der Regierung die Dollarreserven ausgehen.
Was diese Länder trifft, sind zum einen die steigenden Rohstoffkosten. Zum anderen aber der Verfall ihrer Währungen, der die in Dollar zu bezahlenden Importe noch teurer macht. Denn um die Inflation zu bremsen, hat die US-Zentralbank ihre Zinsen massiv erhöht. Das macht den Dollar für Finanzanleger attraktiver, Geld fließt in die US-Devise. Während der Wert des Euro gefallen und genau einen US-Dollar wert ist, schmieren Weichwährungen rund um den Globus ab.
»Die Welt hat noch nie eine Energiekrise in dieser Tiefe und Komplexität erlebt«, sagte diese Woche Fatih Birol, Vorsitzender der Internationalen Energieagentur (IEA). »Das Schlimmste steht uns vielleicht noch bevor.« Die ärmeren Länder können nur auf eine Trendwende an den globalen Finanzmärkten hoffen. Denn dort werden die Preise für Rohstoffe gemacht. Und derzeit sieht es so aus, als würde die Stimmung der Märkte drehen: Auf Grund von Befürchtungen einer Rezession in Europa und Nordamerika und schwachem Wachstum in China haben sich Rohstoffe stark verbilligt: Seit den Höchstnotierungen haben sich Öl und Gas um 20 bis 30 Prozent verbilligt, Nickel und Aluminium um 40 bis 50 Prozent und auch der Weizenpreis ist knapp 30 Prozent gefallen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.