Hallenser Haftungsverlust

In der sachsen-anhaltischen Stadt wird ein riesiges Wandbild aus DDR-Zeit dank privater Initiative saniert

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Der spanische Künstler Josep Renau lebte lange in Mexiko und schuf vom Muralismus beeinflusst in Halle-Neustadt riesige Wandbilder.
Der spanische Künstler Josep Renau lebte lange in Mexiko und schuf vom Muralismus beeinflusst in Halle-Neustadt riesige Wandbilder.

Der Scheitel von Karl Marx bröckelt. Wäre es nicht despektierlich, könnte man sagen: Der Philosoph hat Schuppen. Sein Abbild befindet sich in luftiger Höhe an einem Elfgeschosser in Halle-Neustadt, als Teil eines gigantischen, 35 Meter hohen Wandbildes, das der spanische Künstler Josep Renau schuf. »Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR« heißt das Kunstwerk, das gemeinsam mit einem ebenso großen zweiten an den Treppentürmen eines Lehrlingswohnheimes angebracht und 1974 eingeweiht wurde. Es besteht aus exakt 10 904 Fliesen, deren obersten freilich im Laufe von fast einem halben Jahrhundert die Witterung sehr zugesetzt hat. Zwar handelt es sich um hochwertige Keramik aus Boitzenburg, wie sie bei Heimwerkern in der DDR begehrt waren. Doch die Dachabdeckung war nicht perfekt, sagt Restaurator Mirko Finzsch. Folge: Wasser drang in die Tragschicht ein, Kälte ließ es gefrieren, Eis sprengte die Kacheln. Die sehen nun aus »wie Blätterteig«, sagt Finzsch und präsentiert ein Tütchen voller Splitter: »Da kann man restauratorisch wenig tun.«

Es gab Zeiten, da hätten viele Leute gesagt: Muss man ja auch nicht. Kurz nachdem die DDR, deren Gründung im Oktober 1949 Renau auf seinem Wandbild feierte, zwischen Herbst 1989 und Oktober 1990 aus dem Lauf der Geschichte wieder abgetreten war, erntete auch ihre Kunst scheele Blicke oder gar Verachtung. Philip Kurz, der Geschäftsführer der Wüstenrot Stiftung, zitiert den in Ostsachsen gebürtigen, 1958 in den Westen übergesiedelten Maler Georg Baselitz mit dem brutalen Verdikt, in der DDR habe es keine Kunst und keine Künstler gegeben – und wenn doch, dann seien es »Arschlöcher« gewesen.

Der Urteilsspruch trifft Maler von Porträts und Alltagsszenen, um so mehr aber Künstler wie Renau, die ihr Schaffen in den Dienst einer als gut empfundenen Sache stellten. Der Kommunist war im spanischen Bürgerkrieg künstlerischer Propagandachef der Republikanischen Armee gewesen; er hatte dafür gesorgt, dass im spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937 Pablo Picassos Bild von der Zerstörung Guernicas zu sehen war. Nach der Niederlage gegen die Franco-Putschisten ging er nach Mexiko, wo ihn Kollegen wie David Siqueiros mit der Wandmalerei im öffentlichen Raum, dem Muralismo, vertraut machten.

Dessen Ideen brachte er 1958 mit in die DDR, in die man ihn eingeladen hatte. Und als ab 1967 neben der alten Stadt Halle die zunächst eigenständige neue Wohnsiedlung Halle-Neustadt für Chemiearbeiter aus Leuna und Buna errichtet wurde, deren »Generalbebauungsplan« nach den Worten von Halles Kulturbeigeordneter Judith Marquardt die »Synthese von Architektur und Kunst« vorsah und in der Kunst am Bau so selbstverständlich war wie Kaufhallen und Straßenlaternen, konnte der Spanier in seiner neuen Heimat den Muralismo umsetzen – in großem Stil und auf Keramikfliesen, weil diese der schlechten Luftqualität im Chemiedreieck am besten zu trotzen versprachen.

Renaus Kunst spiegelt seine internationale Erfahrung. Die Bilder, die er in Halle schuf, sind kein sozialistischer Realismus, sondern zitieren die Formensprachen von Kubismus und Futurismus; sie wirken collagenhaft und sind von erfrischender Farbigkeit. Ursprünglich sollte ein Kollektiv um Renau sogar fünf Kunstwerke von zusammen sagenhaften 1,5 Kilometer Länge schaffen, ein Panorama, wie es das zu diesem Zeitpunkt nirgends sonst gab. Die Gruppe zerstritt sich allerdings, die Pläne wurden eingedampft. Es blieben drei Werke übrig, die immerhin 700 Quadratmeter maßen und tatsächlich umgesetzt wurden. Eines ist heute nicht mehr zu sehen; es wurde mitsamt der das Bild tragenden Mensa in den 1990er Jahren abgerissen und ist verloren. Zwei aber sind übrig. Auf dem linken der beiden Wandbilder mit dem Titel »Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik« feiert Renau den Fortschritt von Ingenieurwesen und Weltraumfahrt, die seiner Ansicht nach so nur im Sozialismus möglich waren; auf dem Bild, vor dem Mirko Finzsch jetzt auf einem Baugerüst steht, schaut Karl Marx über Marschblöcke von Arbeitern, die sich unter roten Fahnen vereinen.

Über Bilder mit derart programmatischen Titeln sagte einst wohl nicht nur Baselitz: Das ist keine Kunst, das kann weg. Wenn die Kacheln von allein von der Wand fallen – um so besser. Philip Kurz freilich ist nicht dieser Ansicht, und mehr als drei Jahrzehnte nach Ende der DDR steht er mit dieser Ansicht nicht allein da. »In Fachkreisen ist klar: Das ist gute Kunst«, sagt er und verweist auf eine Fachtagung im Herbst in Dresden und einen Sammelband zum Thema. Er fügt zum Stichwort Wertschätzung aber einschränkend auch an: »In der Gesellschaft ist das noch nicht ganz so.«

Dennoch kümmert sich die von ihm geleitete Stiftung in einem Projekt ausdrücklich um Kunst am Bau aus der DDR. Ab 2007 wurde zunächst ein Wandbild von Arno Mohr in der früheren Kunsthochschule Berlin-Weißensee restauriert, danach ein erstes Mosaik von Josep Renau in Erfurt. Es besteht aus 77 000 Glassteinchen, war aber lange nicht mehr zu sehen, sondern »lag in Kisten«, weil das zugehörige Gebäude abgerissen worden war. Bei der Einweihung des restaurierten Kunstwerks habe ihn ein Vertreter der Hallenser Stadtverwaltung auf die dortigen Werke von Renau angesprochen, die zwar noch nicht in Kisten lagen, aber wegen baulicher Schäden extrem bedroht waren. Eines hatte die Stadt schon 2005 sanieren lassen. Um das andere kümmert sich nun bis voraussichtlich Ende des Jahres die Wüstenrot-Stiftung, die 80 Prozent der Kosten von einer Million Euro trägt. Die Stadt Halle allein, sagt Judith Marquardt, hätte das nötige Geld auf absehbare Zeit nicht gehabt.

Die Aufgabe, der sich Restaurator Finzsch und seine Kollegen von der 1887 gegründeten, aber stark mit zeitgenössischer Kunst befassten Firma Bayerische Hofglasmalerei Gustav van Treeck aus München stellen, ist beachtlich. Nicht nur der Scheitel von Marx bröckelt von der Wand. Das wie alle Wohnblöcke in Halle-Neustadt einst aus Großplatten zusammengefügte Gebäude sei wie Bauwerke generell permanent minimal in Bewegung, sagt der Restaurator. Üblicherweise puffern Dehnungsfugen entstehende Spannungen. Bei dem Hallenser Wandbild wurden die Fliesen teils aber über derlei Fugen hinweg verklebt. Ein halbes Jahrhundert feinster Bewegungen hat den Mörtel, mit dem sie befestigt wurden, bröseln lassen; es sei großflächig zu »Haftungsverlust« gekommen, formuliert der Restaurator. Insgesamt ist rund die Hälfte der fast 11 000 Fliesen nicht mehr fest mit dem Untergrund verbunden. Rund 500 müssen komplett neu hergestellt werden. Derzeit, heißt es, sei man auf der Suche nach Keramikern, die sich gut genug mit dem Brennen solcher künstlerischen Fliesen in der sogenannten Majolika-Technik auskennen.

Um das Kunstwerk zu retten, gehen Restauratoren wie Raphael Doths im Laufe des Sommers einer Sisyphusarbeit nach. Er steht auf dem Baugerüst und klopft mit einem Metallstift an jede einzelne der 15 mal 15 Zentimeter großen und acht Millimeter dünnen Fliesen. Klingt eine hohl, bohrt er ein Loch in die Trennfugen und injiziert mit einer kleinen Plastikspritze Kleber zwischen Fliese und Mörtel oder Mörtel und Wand. Die grün gebänderte Kachel, an der er gerade beschäftigt ist, trägt die Nummer 55/24. So ist sie in dem Raster aus 232 waagerechten Reihen und 47 senkrechten Spalten genau zu verorten. Ob diese Fliese freilich zu einem der von Renau dargestellten Arbeiter gehört, zu einem Baum oder einem anderen Detail des riesigen Kunstwerks, das sieht Doth aus der Nähe nicht. In wenigen Zentimetern Abstand auf dem Baugerüst wirkt die »Einheit der Arbeiterklasse« nur wie ein Meer bunter Pixel, die beliebig aneinander gefügt zu sein scheinen und deren Sinn sich nicht recht erschließt. Den besten Blick, sagt Marquardt, habe man erst mit etwas Abstand: vom Ufer des gegenüber gelegenen Badesees.

Es scheint freilich, als erkenne man nicht nur das Bild selbst mit etwas Abstand besser, sondern auch dessen Wert. Direkt nach Ende der DDR schauten viele Betrachter nur auf den Kopf von Marx und die roten Fahnen und geißelten den ideologischen Charakter des Werks. 30 Jahre später »geht es mehr um die Qualität der Kunst«, sagt Kurz. Er räumt ein, dass es sich um ein »unbequemes Denkmal« handle, weil es auch zur Auseinandersetzung mit der von Renau vertretenen Ideologie und Weltanschauung auffordere. Diese aber zu führen, indem dem Bild der künstlerische Wert abgesprochen und sein Verfall billigend in Kauf genommen wird – das hält Kurz für unangemessen. »Das ist ein künstlerisches Zeugnis und keine Agitation für heute«, sagt er und merkt an, es gehe auch um das Lebens- und Selbstwertgefühl jener Menschen, die einst beim Weg zur Arbeit, beim Blick von Balkon oder Spielplatz auf die Wandbilder Renaus blickten und mit diesen älter wurden. »Das ist ein Teil ihrer Identität«, sagt Marquart. Als das Renau-Wandmosaik in Erfurt wieder übergeben wurde, seien Tausende gekommen und hätten sich über die Rückkehr des Kunstwerkes in den Stadtraum gefreut, meint Kurz. Im Übrigen, merkt er an, sei er überzeugt, dass die Bilder »nicht nur Ostidentität« transportierten: »Das ist«, sagt er, »ein Teil der Identität von uns allen.« Deshalb kümmert sich auch eine in Ludwigsburg ansässige private Stiftung darum, dass Marx’ Scheitel nicht mehr bröckelt.

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