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In die Nahrungswüste verpflanzt
Ein junger US-Amerikaner verlor wegen eines Tiktok-Videos seinen Job
Erinnert sich noch jemand an Justine Sacco? Im Dezember 2013 reiste die damals 30-jährige PR-Managerin mit zwei Langstreckenflügen von New York nach Kapstadt, um Verwandte zu besuchen. Bei ihrem Zwischenstopp in London setzte sie einen für sie verhängnisvollen Tweet ab: »Auf dem Weg nach Südafrika. Ich habe Angst, AIDS zu bekommen. Nur Spaß, ich bin weiß.« Danach stieg Sacco in den Flieger und hatte mehr als elf Stunden lang keine Verbindung zum Internet. Als sie ihr Smartphone in Kapstadt anschaltete, war ihr Tweet Zehntausende Male geteilt worden; sie erhielt unzählige Hassnachrichten und Beschimpfungen. Einer ihrer 170 Follower hatte ihn an die Plattform Buzzfeed weitergeleitet, von dort aus hatte er viele Internetnutzer erreicht – und eine Menge Wut entfacht.
Später sagte Sacco, dass der Tweet eigentlich ein kritischer Kommentar gewesen sei: Jeder wisse doch, dass auch weiße Menschen an Aids erkranken könnten. Sie hätte sich lediglich über weiße Amerikaner wie sich selbst mokieren wollen, die in ihrer Wohlstandsblase kaum wüssten, was in der »Dritten Welt« eigentlich passiert. Auch wenn dies stimmen mag, musste man den Tweet ohne weitere Kontextualisierung als überheblichen und rassistischen Witz verstehen. Glaubt man Sacco ihre kritisch-reflexive Intention, so ist ihr zumindest Ignoranz und Naivität in Bezug auf das Medium und ihr Publikum vorzuwerfen.
Doch was auch immer Sacco damals zu ihrem Tweet motivierte – er veränderte ihr Leben grundlegend. Ein Mob von Zehntausenden formierte sich im Internet, Schmähungen und Morddrohungen prasselten auf sie ein. Jemand schwärzte sie bei ihrem Arbeitgeber an, Sacco verlor ihren Job und stürzte in eine psychische Krise. Im »New York Times Magazine«, das 2015 ein langes Essay über den Fall veröffentlichte, beschreibt Sacco diese Zeit als traumatisch und gibt an, ihr gehe es auch über ein Jahr später noch nicht wieder gut.
Der mediale Hass auf sie war wohl ein Präzedenzfall – es folgten viele weitere. Zuletzt schwirrte der Fall von Griffin Greene, nun besser bekannt als »Bodega Bro«, durch die sozialen Medien und wurde auch von einigen Newsportalen aufgegriffen. Greene, ein junger College-Absolvent aus Michigan, hatte auf der Videoplattform Tiktok eine moderate Anzahl an Followern. Vor Kurzem ist er in die New Yorker Bronx gezogen, in Videos berichtete er von seinem neuen Leben.
In einem Video läuft Greene durch die Straßen seiner Nachbarschaft und beschwert sich über das Nahrungsangebot. Er wolle Milch, Eier und Joghurt; stattdessen bekomme er in seiner Gegend in den Bodegas, wie kleine Kioske in New York genannt werden, nur stark verarbeitete, haltbare Lebensmittel. Mit seinem Smartphone filmend betritt Greene eine Bodega. Er streift mit der Kamera neben dem Warenangebot auch andere Kunden, alle haben dunkle Haut.
Nachdem Greene das Video bei Tiktok hochgeladen hat, verbreitet es sich schnell – und er ist zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Das Video sei rassistisch, lautet der Vorwurf. Greene bewege sich nämlich in einem Food Desert (Nahrungswüste). So werden Gegenden bezeichnet, in denen es nur sehr begrenzten Zugang zu frischen Lebensmitteln gibt. Die Wahrscheinlichkeit eines Food Deserts steht in Korrelation zum ökonomischen Status der Einwohner. Und dieser wiederum korreliert in den USA mit dem Anteil von African Americans und Migranten aus dem Globalen Süden an der Gesamtbevölkerung.
Greene, ein weißer Mittelschicht-Amerikaner aus dem Mittleren Westen, spreche in der »schwarzen« Bronx also aus einer privilegierten Position. Zwar ist der Rassismusvorwurf hier offensichtlich an den Haaren herbeigezogen – doch über das Bodega-Video stoßen viele Internetnutzer auf ein weiteres Video von ihm, das diesen Vorwurf nicht ganz unberechtigt erscheinen lässt. Greene erzählt darin davon, dass in seinem Fitnessstudio nur schwarze Menschen trainierten, er sei der einzige Weiße. Als Zeichen seiner Solidarität wolle er bei seinem nächsten Besuch ein T-Shirt mit der Aufschrift der schwarzen Bürgerrechtsbewegung NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) tragen – damit »diese Leute« (»these people«) ihn akzeptieren.
Ein vielleicht »gut gemeinter«, aber sicherlich geschmackloser Witz, affirmiert Greene damit doch in überheblicher Weise die Trennung zwischen sich als weißem und »diesen« als schwarzen Amerikanern – als wären letztere eine andere Spezies. In einem Interview, das er später mit dem rechtskonservativen Fernsehsender Newsmax TV führte, erklärt Greene, dass er den Ausdruck »diese Leute« bereue, ansonsten habe er sich aber nichts vorzuwerfen. Auch Greene hat seinen Job verloren (wenngleich er medial auch viel Popularität und Verständnis gewinnen konnte).
Wer über die Fälle von Greene und Sacco nachdenkt, wird sich vielleicht die Frage stellen, ob die beiden es verdienten, von ihren Arbeitgebern entlassen zu werden und enormen shitstorms ausgesetzt zu sein. Ihre Aussagen sind juristisch nicht zu belangen – aus guten Gründen. Nur kann es heute, je nach sozialem Status und Einkommen, schlimmer sein, seinen Job zu verlieren, als etwa eine Geldstrafe zu zahlen. Man kann diese Frage also guten Gewissens eigentlich nur verneinen. Doch vielleicht ist das Nachdenken über Gerechtigkeit ohnehin falsch, denn unsere Gesellschaft ist entgegen vielen anderslautenden Beteuerungen keine meritokratische. Das heißt: Man bekommt nie, was man verdient. (Und wer hat es, abgesehen davon, verdient, im PR-Management zu arbeiten?)
Sicher ist, dass sich sowohl in Saccos als auch in Greenes spontanen, unbedachten Aussagen eine gewisse Ignoranz manifestiert, die im besten Fall Naivität entspringt und im schlimmsten Fall rassistisch grundiert ist. Gleichzeitig sind aber sowohl Greene als auch Sacco Sündenböcke für etwas, das über sie hinausgeht: nämlich die Verhältnisse, in denen der ökonomische Status und die damit einhergehende Macht einzelner durch formelle Gleichstellung zwar nicht zwingend mit der Hautfarbe zusammenhängen, sich die Unterschiede statistisch aber noch immer entlang dieses Merkmals abbilden lassen. Auch der Rassismus lebt (nicht nur) damit fort.
Sicher ist auch, dass Unternehmen durch soziale Medien heute mehr denn je unter moralischem Druck stehen, der auf einzelne Mitarbeiter übertragen wird. Selbst wenn also die Arbeitgeber im Verhalten ihrer Mitarbeiter keinen Kündigungsgrund sehen, müssen sie sich oft der in den sozialen Medien formulierten Mehrheitsmeinung beugen, um Imageschaden abzuwenden.
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