Selbstorganisation oder Barbarei

Kunst und Kollektiv (1): Es bedarf neuer Produktionsweisen – auch am Theater

  • Luise Meier
  • Lesedauer: 6 Min.
Künstlerische Arbeit muss und kann anders organisiert werden – wie hier durch sowjetische Filmleute um Dziga Vertov.
Künstlerische Arbeit muss und kann anders organisiert werden – wie hier durch sowjetische Filmleute um Dziga Vertov.

Das Nachdenken über Kollektivität ist zuallererst der Versuch, der Realität gerecht zu werden und Situationen, Organisationen, Menschen und Dinge in der Komplexität ihrer Beziehungsnetzwerke wahrzunehmen. Es ist auch der Versuch, Verantwortung für die Folgen bestimmter Organisationsformen und Beziehungsweisen zu übernehmen oder wenigstens zu markieren. Denn anders als es der Kunsttheoretiker Bazon Brock kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk behauptete, ist »der Künstler« kein »Mensch, hinter dem nichts steht«.

Beispielsweise ist, wie wir mittlerweile wissen können, in die Ermöglichung unserer Lebensweise, die wir nur durch beharrliche Ignoranz als individuelle wahrnehmen, ein Kollektiv von circa 50 Sklav*innen weltweit verstrickt. Das ist allerdings weder selbstorganisierte noch emanzipatorische Kollektivität. Schöner fühlt es sich da natürlich an, sich allein als Schöpfer*in des eigenen Lebens und Lebensstandards zu imaginieren. Wir sollten nicht aufhören, Descartes mit seinem allgegenwärtigen »Ich denke, also bin ich« entgegenzuhalten: »Nee, Mutti zum Beispiel hat sich mehr oder weniger freiwillig entschieden, dich auszutragen und durchzufüttern, also bist du, denkst du usw.« Jemand hat dein Essen angebaut und geerntet, gekocht und serviert, und nur deshalb kannst du überhaupt an etwas anderes denken als ans Essen.

Woher kommt das Papier, auf dem du schreibst, der Computer, auf dem ich tippe? Was wurde alles abgeschnitten, wenn ich »ich« sage? Wer hat mich die Dinge gelehrt, mit denen ich jetzt arbeite, wer hat mir gezeigt, dass es sich lohnen kann, das Gelernte hier und da beiseitezulegen oder sich in seine Widersprüche zu verstricken und dagegenzustemmen? Wer baute das siebentorige Theben, das Next-Day-Delivery-Imperium Amazon? Wer erstickt schließlich an dem Plastikmüll, den meine Bequemlichkeit und Zufriedenheit hinterlässt; wer putzt die Räume, die ich betrete; wer oder was profitiert von meiner politischen Untätigkeit, vom Nicht-Organisieren, Nicht-Mobilisieren, Nicht-Agitieren?

Gerade brennen allerorts die Wälder, Menschen sterben an Hitze, Hunger, Umweltkatastrophen und Krieg, Leute verschwinden in Isolation, verlieren sich in digital produzierten QAnon-, Bürgerkriegs-, Massen- und Selbstmordfantasien – Ausschlachtung und Ausbeutung von Mensch und Natur in aller Komplexität der Kapitalbewegung und ihrer sich potenzierenden Eigendynamiken. Aber das Feuilleton hat nichts Besseres zu tun, als zum groß angelegten »Früher war alles besser«, »Geniale Führer braucht die Kunst« und »Weiter wie bisher« zu blasen. Immer die Behauptung unterschiebend: Es würde funktionieren, hätte funktioniert. Der Status quo und der Weg hierher, der diesen Status quo hervorgebracht hat, würden funktionieren, besser, als es jede vorstellbare und unvorstellbare Veränderung der Verhältnisse jemals könnte. Immer die resultierenden Verheerungen sorgfältig abschneidend und als Ausnahmefälle oder Einzelversagen absondernd.

Dieses heimelige »Früher« hat genau diese Katastrophe hervorgebracht, in deren Mitte wir stehen und von der man mit Walter Benjamin sagen muss, »dass es so weitergeht, ist die Katastrophe«. Ebenso die historischen Katastrophen, die ins Heute hineinreichen.

Klar, der Status quo bringt vermutlich für den einen oder anderen Kultur-Boomer und -Doomer die eigene sehr komfortable Lebensweise und die einträgliche Autorität hervor, mit der man ins Radio, ins Feuilleton, auf Lehrstühle geladen wird, um mit allerlei bildungsbürgerlichen Referenzen geschmückt, die eigene Besitzstandswahrung als Allgemeingut anzupreisen. Dort braucht es dann die Kunst nur – und zwar gerade als vom Zweck, wirkliche Veränderung zu bewirken, befreite –, um hier und da ein bisschen Aufregung gegen die Eintönigkeit der im Ganzen aber unangetasteten Bequemlichkeit einzustreuen und sich immer noch im weitesten Sinne als »kritisch« zu verstehen. Denn im wirklichen Ausprobieren des Kollektiven, im wirklichen Wahrnehmen der Verstrickungen, in der wirklichen Infragestellung des Status quo sähe man die Gefahr, dass etwas – Ja, was denn genau? Wahrscheinlich der doch ohnehin unerträgliche Status quo – zerstört werden könnte.

Eine immer drängendere Frage lautet: Funktionert denn wirklich – was die latente Behauptung zu sein scheint – die Ordnung, in der wir uns gerade befinden, oder – so die abgeschwächte Variante des Arguments – verhindert sie denn »wenigstens Schlimmeres«? Was soll das aber sein, dieses Schlimmere, angesichts der Weltlage, um dessen Verhinderung willen, man das andere nicht versuchen will? Für wen wäre es wie genau schlimmer?

Seit Hunderten von Jahren hält die »Partei der Ordnung« dem Ruf nach und dem Kampf um wirkliche Demokratie und Selbstorganisation, um die kollektive Selbstorganisation der Produzent*innen und Produktionsmittel, das Schauerbild vom Mob, vom »Krieg aller gegen alle« entgegen. Sie verspricht im aufgeklärten Herrscher (oder etwas abgeschwächt, in der sorgfältig mit allerlei polizeilicher Innovation gegen die Prollos da draußen abgeschirmten Debatte der – durch stapelweise Zertifikate legitimierten – Expert*innen) das einzige Antidot.

Aber wäre nicht das Antidot gegen das Umschlagen von Ohnmacht in Ressentiment und Gewalt, vor dem man sich durchaus fürchten kann, statt noch mehr Ohnmacht die Selbstorganisation – also solidarische, nicht exklusive, sondern kollektive, kritisierbare, vielstimmig lernende Mitbestimmung – wirkliche Demokratie? Und wo wäre so ein Sprung ins sich selbst organisierende, ins selbst lernende Kollektiv anschaulicher, kritisierbarer, korrigierbarer und vermittelbarer auszuprobieren und zu erfahren als in der Kunst? Und wo wäre das immer schon vorhandene, aber oftmals still gestellte und unsichtbar gemachte Kollektiv besser zu organisieren und eben zu probieren als am Theater? Das Theater ist ein Kollektivbetrieb, ob der Intendantenkönig noch regiert oder bereits gestürzt wurde oder als Person mit Klassenbewusstsein und also Sinn für den Auftrag des Klassenverrats seine eigene Abschaffung kollektiv mitorganisiert.

Der Angst vor dem eigenen Überflüssigwerden, die die jetzigen Autoritäten plagt, ist nur zu begegnen mit dem Kampf für eine kollektive Organisationsform, in der niemand als überflüssig abgestoßen wird, weil es dieser Organisationsform eben um die Mitbestimmung und Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen geht, auch der vormals privilegierten, und nicht um Konkurrenz und Profite, also Selbstermächtigung auf Kosten anderer – oder kurz: mit dem Kampf um Sozialismus. Niemand hat aber qua Geburt, Glücksgriff in der Karrierelotterie oder Salbung zum Genie durch entsprechende Autoritäten ein Anrecht auf die Ausbeutung anderer, seien es Putzkräfte, Beleuchter*innen oder Schauspieler*innen.

Was so ein Versuch sich selbst organisierender Kollektivität gebrauchen könnte, wären Kritiker*innen, denen im Nachdenken über Experimente künstlerischer Selbstorganisierung mehr einfällt als die immer gleiche Gegenüberstellung von Anarchie/Kollektiv/Chaos und Führer/Genie/Autorität – Daumen hoch oder runter. Denn auch das autoritär geführte Kollektiv ist, wie das schlecht organisierte, ein Kollektiv – ein eingezwängtes, um seine kooperativen Potenziale betrogenes und ausgebeutetes. Auch die Behauptung, irgendwie Kollektiv zu sein, die man aus der Volksbühne etwa vernehmen konnte, heißt noch gar nichts, wenn es um die Frage der Möglichkeit von kollektiver Selbstorganisierung geht. Selbstorganisation beginnt damit, Mitbestimmung von unten zu organisieren, gemeinsame Ziele zu vereinbaren, Wege zur Entscheidungsfindung für alle zu öffnen und transparent zu machen, nachvollziehbar Verantwortlichkeiten zu verteilen und über Kanäle und Umgangsformen mit Kritik von innen und außen abzustimmen, sodass aus den eigenen gerade gemachten Erfahrungen in der kollektiven Selbstorganisation Lernprozesse folgen. Selbstorganisation heißt auch, über die Verteilung der vorhandenen Ressourcen (also zuallererst Löhne) gemeinsam und transparent zu entscheiden.

Die Experimente in Selbstorganisation, ihre Vielfalt und ihre Reflexion reichen so weit zurück wie der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung selbst. Die Aufgabe, sich in dieser vielgestaltigen Geschichte zu verorten, sich in ihre Widersprüche und oft schmerzhaften Erfahrungen der Niederlagen und Niederschlagungen zu verstricken, sie weiterzuspinnen, ist nicht durch das verschleiernde Herumwedeln mit dem Kollektivslogan erledigt, sondern fängt gerade erst an. So findet der Text hier auch nicht seinen Abschluss, sondern gibt den Faden zurück – denn da kommt er ja her – ans Kollektiv.

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