Alles im Blick

Bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris wird die Überwachung eine neue Dimension erreichen

  • Giorgia Grimaldi
  • Lesedauer: 8 Min.

238 Verletzte, 105 Festnahmen und Einsatz von Tränengas – eine unerwartete Bilanz des Champions-League-Finales am 28. Mai in Paris. Das Aufeinandertreffen von FC Liverpool und Real Madrid versprach ein sportliches Highlight. Dass Madrid mit 1:0 als Sieger aus diesem Spiel hervorgeht, ist jedoch Nebensache. Stattdessen gingen verstörende Bilder um die Welt: Überforderte Sicherheitskräfte rangelten mit wütenden Fußballfans aus Liverpool, die schrien, sich gegen die Absperrung drückten und schließlich drüber kletterten. Ein paar Augenblicke später brach Panik aus: Das Tränengas der angerückten Polizei zwang die Fans zum Rückzug. Unfähig zu sehen, gebückt und nach Luft schnappend gingen Menschen zu Boden. Der Anpfiff verzögerte sich um eine halbe Stunde. Erst gegen Ende der ersten Halbzeit schien die Situation so weit unter Kontrolle, dass die meisten endlich das Spiel sehen konnten. Doch 2700 Pechvögel konnten die Tribünen des Stadions nie betreten, sondern mussten den Abend im Chaos vor den Eingängen des Stade de France, auf der Polizeiwache oder im Krankenhaus verbringen.

Laut Aussagen des europäischen Fußballverbands Uefa und der örtlichen Behörden soll es durch zahlreiche gefälschte Tickets, die vorab im Internet, aber auch vor dem Stadion verkauft wurden, zum Stau gekommen sein, der in Massenpanik und Gewalt endete. Die Untersuchungen laufen noch. Der französische Innenminister Gérald Darmanin behauptet, es hätten etwa 120 000 Menschen versucht, in das Stadion zu gelangen. Das wären 40 000 mehr, als darin Platz finden. Beweise gibt es dafür bisher nicht. Besucher allerdings sagen, die Organisatoren hätten auf ganzer Linie versagt und unnötige Gewalt gegen Fans angewandt. So oder so, der Ausgang dieses Spiels ist für den Gastgeber Frankreich, das sich auf die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele in zwei Jahren vorbereitet, nicht nur peinlich, sondern besorgniserregend.

Dabei wird in Paris schon seit Monaten gebohrt, gehämmert und gebaut. Trotz der Sommerferien und einer Hitzewelle, die Frankreich seit Wochen fest im Griff hat, werkelt man hier tüchtig. Rumorende Baustellen und Wartungsarbeiten verraten dem aufmerksamen Spaziergänger: Hier werden Austragungsplätze und olympische Dörfer hergerichtet oder komplett neu gebaut. Unansehnliche Viertel jenseits der Stadtmauern sollen bei dieser Gelegenheit endlich die nötige und schon lang versprochene Sanierung bekommen, und auch die Bewohner bereiten sich auf das Event vor. Einige gestalten mit Blick auf lukrative Untervermietung über Plattformen ihre Wohnung um. Das Einreißen einer Wand oder das Einbauen einer Mezzanine, eine Art Halbgeschoss, das gerne zur platzsparenden Unterbringung eines zusätzlichen Hochbetts genutzt wird, kann durchaus lohnend sein, denn laut Auskunft der Pressestelle der Olympischen Spiele muss die Stadt nicht nur etwa 200 000 akkreditierte Athleten, Trainer und Journalisten, sondern auch über 13 Millionen Zuschauer aus aller Welt 16 Tage lang unterbringen. Und die ersten Buchungen trudeln bereits ein.

800 Kilometer weiter südlich laufen die Vorbereitungen ebenfalls auf Hochtouren, aber ganz anderer Natur. Am 23. Juni klackern und tippeln hektische Stöckelschuhe im Konferenzraum des Militärstützpunktes im Alten Hafen von Marseille. Es räuspern sich zahlreiche trockene Kehlen, und Sektflöten stoßen klirrend aneinander. Es gibt was zu feiern. Für die Firmen Atrisc, Inocess, Videtics, Onhys und Siradel, die in den Branchen Sicherheit, Videoüberwachung, Künstliche Intelligenz, Energie und Elektronik tätig sind, ist heute ein großer Tag. Sie stellen das Resultat mehrjähriger Recherchen vor: Das Projekt Serenity hat heute seinen großen Auftritt.

Gemeinsam mit der Universität Côte d‹Azur Imredd arbeitet dieses Konsortium an einem System, das Ruhe und Gelassenheit verspricht. Serenity (was auf Englisch Gelassenheit heißt) soll dabei helfen, menschliche Bewegung zu verstehen und zu steuern, sowohl bei Großveranstaltungen als auch im Rahmen städtischen Verkehrs. Konkret bedeutet das: Jeder Fußgänger, sämtliche Fahrräder, Roller, Autos, Busse, U-Bahnen, eben alles, was sich in der Stadt oder auf einem Veranstaltungsgelände bewegt, soll in Echtzeit erfasst und analysiert werden. »Diese Querschnittsanalyse aller Verkehrsströme soll mögliche Abnormalitäten wie hohes Verkehrsaufkommen, auffällige Bewegungssequenzen von Menschen oder Fahrzeugen oder auch extreme Hitze nicht nur identifizieren, sobald sie auftreten, sondern auch schon bei den ersten Anzeichen vorhersehen und rechtzeitig Schutzmaßnahmen einleiten«, erklären die Vorsitzenden des Projekts.

Um Serenity zum Laufen zu bringen, sollen Sicherheitskameras, Infrarot- und Wärmekameras auf Bussen, Taxis, Autobahnen, auf Polizeiwagen, im Stadtzentrum, auf Tribünen, in Eingängen von Stadien und Konzertsälen und überall sonst, wo es sich anbietet, installiert werden. »Natürlich sind die Daten anonymisiert, die Kameras erfassen, wie viele Menschen sich an einem Ort aufhalten und wie sie sich bewegen, aber nicht, wer sich dort aufhält«, sagt Alan Ferbach von Videtics und erklärt, dass der ethische Aspekt seiner Videoüberwachungsfirma überaus wichtig sei.

Wie arbeitet das Programm also genau? Wird es in einem Konzertsaal zu heiß, sucht Serenity nach der Ursache. Zu viele Menschen oder vielleicht ein Brand? Zu viele Menschen könnte bedeuten: Einlass stoppen, Türen schließen und Klimaanlage einschalten. Feuer würde eine automatische Evakuierung und den Anruf bei der Feuerwehr zur Folge haben, wobei Serenity aufgrund der gesammelten Daten auch weiß, wie sie die Menschen am besten in Sicherheit lotst. Im Straßenverkehr könnte das so aussehen: Erkennt Serenity Fehlverhalten der Fahrer auf der Autobahn und befürchtet einen Unfall oder Stau, gibt sie eine Warnung an die Öffentlichkeit raus und empfiehlt: Nutzen Sie lieber den öffentlichen Nahverkehr. Oder aber: Identifiziert Serenity innerhalb einer Menschenmenge einen auffälligen Wagen mit »abnormalen Bewegungssequenzen«, schickt sie Informationen wie Anzahl der anwesenden Menschen, Bewegungsmuster des Fahrzeugs und mögliche Szenarien, die sie durch die eingespeiste Datenlage in ihrem System berechnen kann, an die nächste Polizeistelle. Auch das Versenden einer Push-Nachricht an die Menschen in nächster Umgebung wäre denkbar.

In Städten wie Paris oder Berlin sind die Erinnerungen an Terror und in Menschenmassen rasende Fahrzeuge noch recht frisch. Vielleicht kommt da Serenity, ein auf Künstlicher Intelligenz und anonymisierter Videoüberwachung basierendes System, das Amoklauf, Massenpanik, Anschläge und jede weitere Gefahrenquelle sowie Staus und allgemein Verkehrsstörungen verhindern soll, gerade recht? Besonders mit Blick auf die Olympischen Spiele? Laut ihren Entwicklern denkt Serenity dabei sogar »kostenschonend und umweltfreundlich«. Aber wird das gesellschaftliche Zusammenleben wirklich sicherer, wenn nicht mehr der Mensch die Entscheidungshoheit über normal oder abnormal, gefährlich oder unbedenklich hat, sondern ein autonomes Überwachungssystem? Und wie sehen die Risiken aus?

»Theoretisch wäre ein Hacking-Angriff auf diese von Serenity gesammelten Daten schon möglich. Aber das Risiko wäre minimal und einzelne, aus dem Kontext gerissene Informationen wären auch nicht besonders dramatisch«, antwortet Sébastien Paris, Präsident der Firma Onhys, beschwichtend auf kritische Nachfragen.

Offenbar sehen nur wenige in Serenity ein dystopisches Zukunftsszenario, Kritik an dem Programm ist in Frankreich noch nicht aufgekommen. Die große Mehrheit sieht in dieser anonymen flächendeckenden Überwachung eine Chance, das städtische Zusammenleben harmonischer zu gestalten. Auch der französische Staat steht hinter den Plänen und finanziert das Projekt im Rahmen von »France 2030«, einem 30 Milliarden schweren Investitionsplan. Denn Serenity soll nicht nur mögliche Debakel wie das im Stade de France vermeiden und Verkehrsströme lenken. Es gibt bereits größere Pläne.

Das System Serenity soll der erste Schritt zur Entwicklung einer »Smart City« werden. Eine intelligente Stadt funktioniert mithilfe von »Augmented Reality«, also einer erweiterten Realität. Im Unterschied zur Virtuellen Realität, bei welcher der Benutzer komplett in eine virtuelle Welt eintaucht, geht es bei der Erweiterten Realität um die digitale Darstellung zusätzlicher Informationen. Beispiele für die Augmented Reality Technologie im Alltag sind Smartphone-Spiele wie »Pokémon Go«, bei denen reale Objekte und Plätze abfotografiert werden müssen, um sie anschließend im Spiel zu benutzen. Auch die von der Möbelhauskette Ikea gelaunchte App, die dem Nutzer erlaubt, ausgewählte Möbelstücke per Smartphone einzuscannen und virtuell nach Belieben in der Wohnung zu platzieren, spielt mit den Möglichkeiten der erweiterten Realität.

Außerhalb der eigenen vier Wände könnte man sich vielleicht auch an virtuelle Schaufenster, Plakate oder Verkehrsschilder gewöhnen und beim Autofahren nicht mehr der Stimme des Navis, sondern den auf die Windschutzscheibe projizierten Navigationshinweisen folgen. Diese unerschöpflichen Möglichkeiten basieren auf dem Internet der Dinge. Virtuelle Kopien realer Gegenstände, Gebäude oder Strukturen, die Informationen in Echtzeit abrufen, füllen dieses Internet. Wie fänden Sie es, zu Hause einfach nur das Handy auf dem Wasserhahn zu halten, um Ihren Wasserverbrauch in Erfahrung zu bringen? Oder den Mülleimer einzuscannen, um zu wissen, wann die Müllabfuhr kommt? Dank der Daten, welche die digitalen Zwillinge ihrer Haushaltsgegenstände gespeichert haben, ginge das.

Was sich auf den Alltag des Einzelnen anwenden lässt, geht auch in Groß: Eine ganze Stadt kann mit Informationen aus der erweiterten Realität gefüttert werden. Das Fundament einer Smart City ist nicht mehr Beton, sondern Byte. Durch das Sammeln möglichst vieler Daten könnte man Stadtplanung und Verkehr neu denken. Man könnte alles messen und steuern, nicht nur die Anzahl der Menschen und Autos, auch die Lärmbelästigung, den CO2-Ausstoß oder das Abwasseraufkommen.

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Ganz so weit ist die Entwicklung aber noch nicht. Damit Paris die erste Smart City werden kann, braucht es einen digitalen Zwilling, ein mit Daten gefüttertes digitales Spiegelbild dieser Metropole. Ob Serenity das wirklich schafft, bleibt abzuwarten. Vorerst soll das System während der Olympischen Spiele in zwei Jahren getestet werden. Doch auf der To-do-Liste des Konsortiums steht die Smart City bereits für 2025 ganz oben.

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