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Der falsche Verbündete

Der Kapitalismus hat seit jeher eine progressive Agenda – das macht ihn für Linksliberale so attraktiv

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Fairtrade-Kaffee beruhigt das Gewissen des gemeinen Linksliberalen – zu Unrecht!
Fairtrade-Kaffee beruhigt das Gewissen des gemeinen Linksliberalen – zu Unrecht!

Linksliberalen muss man die selbstverständlichsten Dinge erklären. Zum Beispiel, wie Kapitalismus funktioniert. Fangen wir also an bei Adam und Eva. Bei Adam Smith, der 1776 mit seinem Werk »Wohlstand der Nationen« das theoretische Fundament für das Industriezeitalter legte. Denn für Smith war nicht die Natur die wichtigste Quelle für die Güterproduktion, sondern die Arbeit (englisch »industry«). Und diese hat dann den höchsten Wert, wenn man die einzelnen Arbeitsschritte aufteilt.

Was heute selbstverständlich klingt, war damals revolutionär. Bis dato konnte ein Arbeiter etwa 20 Stecknadeln am Tag herstellen. Doch indem man die Arbeitsschritte auf zehn Leute verteilte, die an speziellen Maschinen arbeiteten, ließ sich die Tagesproduktion auf 48.000 Nadeln steigern. Und was benötigte man, um die Maschinen anzuschaffen und die Arbeiter einzustellen? Natürlich Kapital. So wurde in gewisser Hinsicht der Wirtschaftsliberale Adam Smith zum Wegbereiter für den Kommunisten Karl Marx, der sich später intensiv mit ebenjenem Kapital auseinandersetzte.

Woher sollte man die Arbeiter nehmen? Im 19. Jahrhundert war diese Frage schnell beantwortet: Sie kamen von allein. Die Landflucht spülte verarmte Kleinbauern und Landlose in die Städte. Aus 80.000 Manufakturarbeitern um 1800 waren gut 100 Jahre später 8 Millionen Industriearbeiter geworden. In Krisenzeiten zu viele. Arbeitslosigkeit wurde zum Begleiter von Rezessionen. So lernte der Kapitalismus seine entscheidende Lektion: Wo es zu viele Arbeiter gibt, lassen sich die Löhne niedrig halten. Es lag also im Interesse des Kapitalismus, ein Überangebot an Arbeitern zu erzeugen.

Doch wie stellte man dies an, wenn der heimische Arbeitsmarkt leergefegt war? Indem man aus anderen Ländern Arbeitskräfte rekrutierte. Genau das geschah seit 1955 in Westdeutschland. Durch Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien zog man bis 1973 mehrere Millionen sogenannter »Gastarbeiter« ins Land. Dass es sich bei dieser »mobilen Arbeitsreserve« um Menschen aus Fleisch und Blut handelte, die vor Ort mit ihrer Familie zusammenleben wollten, war so nicht vorgesehen. Aber das unbeabsichtigte Multikulti ließ die Wirtschaftsbosse kalt, solange die Gewinne sprudelten. Sollte sich der Staat um die Folgen fehlender Integrationsmaßnahmen – soziale Ausgrenzung und Ghettobildung – kümmern!

Als größte Arbeitskräfte-Beschaffungsmaßnahme erwies sich jedoch die Besinnung auf die Frau als Produktivkraft. Anders als in der DDR, wo Frauen bereits in den 1950er Jahren selbstverständlicher Teil des Erwerbslebens waren, wurde diese Ressource in der BRD nicht genutzt. Dort gehörte eine Ehefrau nach männlichem Verständnis an den Herd. Daher war es bis in die 1960er Jahre hinein üblich, dass die bundesdeutsche Gattin mit der Schwangerschaft für immer ihren gelernten Beruf aufgab – der Ehemann entschied es so.

Doch mit der Frauenbewegung gewann der Feminismus einen ungewöhnlichen Verbündeten: den Kapitalismus. Dieser hatte erkannt: Die Wirtschaft verdoppelte schlagartig ihr Potenzial an Arbeitskräften, wenn sie auf Frauen setzte, die nach der Entbindung wieder ihren Job ausübten. Dass dieser in der Regel schlechter bezahlt war, machte den Feminismus aus Sicht der Unternehmer noch attraktiver. Den Rest erledigte der gesellschaftliche Wandel. Einst mussten sich »Rabenmütter« dafür rechtfertigen, wenn sie nach der Geburt weiter arbeiten gingen. Heute ist es eher umgekehrt.

Doch ist der Kapitalismus nicht nur auf Frauen als Arbeitskräfte, sondern auch als Konsumenten angewiesen. Früher war dies das brave Hausmütterchen, das zum Kauf von Haushaltsreinigern, Kölnisch Wasser und hochprozentigen Beruhigungssäften (Frauengold) verleitet wurde. Doch diese »Buyer Persona« – wie im Marketing-Englisch Prototypen von Konsumenten genannt werden – ist zur Splittergruppe geworden. Die Frau von heute hört nicht mehr aufs Lenor-Gewissen und die Ariel-Klementine. Die Unternehmen haben dies erkannt. Anders als Konservative, die hartnäckig den Status quo zu bewahren versuchen, beherrscht es die Wirtschaft seit jeher, sich geschmeidig auf neue Situationen einzustellen. Wenn sich die Zielgruppe ändert, muss sich auch das Marketing ändern. Nirgendwo wird Vielfalt so konsequent abgebildet wie in der Werbung.

Dies hat nicht zuletzt Budgetgründe. Konzerne können es sich nicht leisten, für jedes Land der Erde eigene Werbekampagnen zu entwickeln. Eine Produktbroschüre, die für die USA konzipiert wurde, muss auch in Europa funktionieren. Dies hatte bereits in den 90ern zur Folge, dass eine Welt gezeigt wurde, die progressiver erschien als sie an vielen Orten der Erde tatsächlich war. Dazu trugen die Bildagenturen, die die Werbeschaffenden mit Fotomaterial versorgen, maßgeblich bei. Aufnahmen, die etwa das Büro- oder Big-Business-Universum symbolisierten, zeigten häufig einen Mix aus weißen, schwarzen und asiatischstämmigen Mitarbeitern. Das mochte vielleicht der Realität in der New Yorker Wall Street entsprechen, aber garantiert nicht der eines Maschinenbauers in Görlitz oder einer Spedition in Gütersloh.

So inszenierte der Kapitalismus eine Welt, in der Diversität eine Selbstverständlichkeit war. Während CSU-Hinterbänkler noch die Ehe für alle bekämpften, bewarb der Volkswagen-Konzern bereits einen Minivan mit einem schwulen Väterpaar. Doch diese Toleranz hat ihre Tücken. Der Soziologe Herbert Marcuse warnte bereits 1965 vor der »repressiven Toleranz«. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit und Neutralität bekämen Nachrichten, die repressiv (rechte Kommentare), regressiv (Börsenberichte) oder objektiv falsch seien (Werbung) das gleiche Gewicht wie die Meldungen der »gut informierten« progressiven Linken. Auf diese Weise würden die herrschenden Machtstrukturen unangetastet bleiben. Genau das erreichen die Konzerne, indem sie sich etwa zu Fürsprechern der Queer-Bewegung machen. Die Aktivisten freuen sich über das VW-Logo in Regenbogenfarben, aber keiner redet mehr über Kapitalismus und Warenfetischismus.

Auch auf anderen Gebieten erwecken Großunternehmen den Eindruck, sie wären die Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts. Längst bewerben Süßwaren- und Gebäckhersteller viele ihrer Produkte als »vegan«. Und die Häufigkeit, mit der Konzerne das Wort »Nachhaltigkeit« verwenden, erweckt den Eindruck, Greta-Thunberg-Klons hätten die Vorstandsetagen gekapert.

Ist natürlich nur Grünfärberei! Wenn ein Hersteller damit wirbt, die Verpackung bestünde zu 30 Prozent aus recyceltem Plastik, heißt dies im Umkehrschluss, dass für die übrigen 70 Prozent wie ehedem Erdöl verschwendet wird. Da kommt einem Jean Baudrillard in den Sinn, der bereits 1981 in seinem Buch »Simulacres et Simulation« darauf hinwies, dass man sich in einer »Ära der Simulation« befinde. Realität existiere »lediglich noch als Reflex auf bereits zuvor existierende Medialität«.

Baudrillard zeigte auf, dass dank den modernen Medien die Grenze zwischen lebensnotwendigen Erzeugnissen und Produkten, für die erst durch kommerzielle Bilder ein Bedarf geschaffen werde, verschwimme. Als Folge davon würde der Tauschwert eines Produkts sich nicht mehr nach der Nützlichkeit richten, sondern nach einem durch Geld definierten Wert (weshalb für eine Louis Vuitton-Handtasche über 2000 Euro gezahlt werden). Das Produkt selbst werde losgelöst von den Pflanzen, Tieren und Rohstoffen sowie dem Herstellungsprozess betrachtet – wer will schon wissen, unter welchen Bedingungen das Markenprodukt entstand! So landete Baudrillard, wie schon zuvor Marx, bei der Entfremdung.

Also alles kalter Kaffee? Im Gegenteil. Linksliberale, die historisch sattelfest wären, könnten die Scheinwahrheiten des progressiven Kapitalismus Punkt für Punkt zerpflücken. Angefangen beim Kaffee. Ja, ein Fairtrade-Biobauer erhält von Tchibo mehr Geld als ein konventioneller Bauer, nämlich 50 Cent pro Kilo, also bei einem Weltmarktpreis von 1,90 Euro immerhin 2,40 Euro. Klingt gut, ist aber für den Kaffeebauern immer noch zu wenig, um Rücklagen für notwendige Investitionen zu bilden. Kleine Privatröstereien hingegen zahlen häufig vier bis fünf Euro für das Kilo Kaffee. Der hat zwar kein Fairtrade-Siegel, ist aber tatsächlich fair gehandelt, weil er dem Bauern Wachstum und Autarkie ermöglicht. So sieht Nachhaltigkeit aus, die kein Simulacrum ist.

Doch mit solcher Aufklärungsarbeit wollen sich Linksliberale, die selbstzufrieden Fairtrade-Kaffee trinken, nicht aufhalten. Es ist schwer, die Welt zu verändern, wenn man nicht mal weiß, wie Kapitalismus funktioniert.

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