• Kultur
  • Eine Sommergeschichte

Es liegt was in der Luft

Schwere Gedanken und leichte Musik

  • René Hamann
  • Lesedauer: 8 Min.

In diesem Sommer haben sie sich wiedergesehen. Zufällig, in einer kleinen Bar, in der weder sie noch er normalerweise verkehren. Sie haben sich angesprochen, ausgetauscht, haben Bier getrunken und am Ende ihre Telefonnummern ausgetauscht. Dann sind sie wieder ihrer Wege gegangen: Sie ist auf ihr silbernes Fahrrad gestiegen, er hat den Fußmarsch zur Bahnstation angetreten. Sie hat nicht viel gedacht am Ende des Abends, sie hat sich lächeln gefühlt beim Abschließen des Rads vor ihrer Haustür, aber auch müde, als sie den Treppenweg aufwärts gehen musste. Dann ein wenig einsam in ihrer Wohnung. Eingeschlafen ist sie ohne Vorsatz.

In der Bahn zur Arbeit, am nächsten Morgen, Schulmädchen und Plakate, denkt er an sie, ruft sich Erinnerungsbilder vor Augen, dazu stellen sich leise Sätze ein, die von ihnen gesprochen worden sind, damals, lange her. Auch die Sätze, die unausgesprochen blieben, besonders seine, die endlosen Monologe und Lamentos, die in unabgeschickten Briefen und unveröffentlichten Geschichten verschwunden sind, Brackwasser. Er denkt an seinen Anrufbeantworter, während er im Büro auf den Bildschirm starrt, ob er beim Nachhausekommen blinkt, ob sie angerufen hat, fragt sich, ob er anrufen soll oder lieber ein paar Tage warten.

Die Strategien: Wie er damals nur in Strategien gedacht hat, die Regel mit den Wartezeiten, Anruf erst drei Tage nach dem Nummernaustausch, nicht mehr, nicht weniger. Beim Rendezvous nicht alles erzählen, Geheimnisse bewahren. Nicht auf Tuchfühlung gehen, bevor nicht die erste Berührung von ihrer Seite aus kommt. Die Entscheidungen abschauen, sie vordergründig getroffen haben, dabei eigentlich nur ihr abnehmen, ihr von den Augen ablesen, wie man so sagt. Das alles erscheint ihm jetzt albern in der Retrospektive, verklemmt und misstrauisch. Zu Hause schaut er die Post durch, der Anrufbeantworter blinkt nicht, keine Anrufe, er schaltet den Fernseher ein.

Es ist schon spät, sie liegt mit angewinkelten Beinen seitlich auf dem Bett, einem einfachen Gestell, auf dem eine einfache Matratze liegt. Im Flur klingelt das Telefon, es ist zu spät für einen Anruf, findet sie, ein amerikanischer Spielfilm flimmert über den kleinen Fernseher, der auf einem Holzstuhl neben dem Bett steht. Eine Sequenz, die in Italien spielt, in einer Hütte im Nichts, die Bilder sind wie Fotografien geschnitten, ein dunkelhaariger Mann, eine blonde Frau. In Posen. Eine Trägheit der Wahrnehmung, die durch dieses schrillen Klingeln unterbrochen wird, langsam lenkt sie die nackten Beine auf den Boden, verweilt kurz, rappelt sich auf, öffnet die Zimmertür, hebt ab. Es ist seine Stimme, der sie jetzt zuhört, sie setzt sich auf den Boden, nachdem sie das Telefonat kurz unterbrochen hat, um eine Zigarette zu finden, neben ihr ein Aschenbecher, ein starres Bild an der Wand, das sie anschaut beim Hören, Sprechen.

Sie haben lange geredet und gut, sie haben sich verabredet für den freien Tag am Ende der Woche, er bemerkt, dass er sich nicht mehr auf sein Buch konzentrieren kann, die Wörter bleiben sinnlos. Er denkt an Sex, an sie; daran, dass sie nie miteinander Sex gehabt haben, obwohl sie oft nahe dran gewesen sind. Flammenbilder tanzen ihm vor der Nase, als er im Park auf der Wiese sitzt und auf sie wartet. Eine kurze, verstörende Affäre in der Mitte ihrer Bekanntschaft, ein kurzer Blick auf ihre Kniestrümpfe, die sie abrollte, auf ihre roten Füße beim Baden. Warum eigentlich nicht. Er stützt sich rückwärts auf die Hände, beobachtet einen Hund, der einen Schwan in einem Tümpel jagt, heiß ist es in der Sonne, sie ziehen sich in den Schatten zurück.

Sie hat sich ein Sommerkleid ausgesucht zu dieser ersten Verabredung in dem schattigen Park, der quadratisch einen zerbombten Häuserblock ersetzt, mit einem künstlichen Tümpel in der Mitte. Es ist ein helles, mit gedeckten Rosatönen versetztes Kleid, das sie zuletzt als Jugendliche getragen hat, in der Schule. Man meint, Blumenmuster zu erkennen, doch Blumen sind nicht abgedruckt. Er findet das Kleid ein wenig lächerlich, obwohl es zu diesem Sommer passt, er macht verschmitzte Bemerkungen, die er ironisch verpacken kann, sodass seine Art, sich über sie lustig zu machen, eher auf Verbundenheit und Vertrauen schließen lässt, nicht auf Überheblichkeit. Sie hat sich neben ihn gehockt, einen Picknickkorb mitgebracht, sie öffnen eine Flasche Wein, essen mögen sie noch nichts.

Ein fester Blick aus ihren braunen Augen, die sich wohltuend von ihrem Kleid abheben, ihre schmalen, runden Arme, die er betrachtet während des Austauschs über Alltägliches, beim Abspulen von Erfolgs- wie Misserfolgsgeschichten, ein gegenseitiges Update. Und ein Neubeginn gemeinsamer Handlungen, ein Neubeginn der Gespräche in einem leicht beschwingten Ton. Manchmal zu leicht, wie er findet in einem nervösen Augenblick, in dem er sich fragt, wie es zu dieser Situation kommen konnte und wohin sie führen wird. Die Weinflasche lassen sie halbvoll stehen, es ist schon spät, am Parkrand stehen sie nebeneinander, umarmen sich zum Abschied, einem ersten, dem bald weitere folgen werden, das spüren sie, das liegt in der Luft.

Die Berührung bleibt haften, ihre Körper erinnern sich noch eine Weile auf dem Heimweg daran, warm schauen sie in die Augen der Passanten, die andere Empfindungen mit sich herumtragen. Es ist spät, der Tag findet einen kühlen Ausklang, die Menschen steuern ihre Betten an oder die Gesellschaft anderer in kleinen, bedrängten Räumen mit Alkohol und Zigaretten. In der Nacht ist es ein weiteres Mal das Telefon, das sie verbindet, die Sehnsucht nach einer Stimme, die lieblich klingt, sanft. Sie hat angerufen, er ist überrascht. Sie verabreden sich fürs Kino, am nächsten Tag sucht er einen Film aus, schaut sich die Anzeigen der Kinos in der Innenstadt an, schlendert durch die Fußgängerzone, es ist Mittagspause. Der Sommer steht auf seinem Höhepunkt, die Sonne brennt ihm auf den Kopf, die Hitze dehnt seinen Körper aus. Turnschuhe und Softdrinks, er schwitzt in der Jeans, kurze Hosen kann er nicht tragen, Geschmacksgebot. Er schwitzt unter den Achseln, er schwitzt auf dem Bauch. Kurz denkt er an ihr Sommerkleid, es macht ihn lächeln, er fragt sich, ob er sich schämen soll wegen seiner Scherze darüber, im Rückblick hat ihm das Kleid sogar gefallen, es hatte etwas Frisches, Luftiges.

Am Abend hat sie sich für etwas Unauffälliges entschieden: Hose und T-Shirt, ohne Aufdruck. Sie tritt aus dem Haus, in gespannter Erwartung schließt sie ihr Rad auf und fährt in Richtung des Programmkinos, vor dem er auf sie wartet. Ihre Umarmung ist jetzt fester, eine Begrüßung, die beide leicht vibrieren lässt, doch keine Wangenküsse, keine Handberührungen, das wäre zu freundschaftlich. Gesten dieser Art werden vermieden, keine falschen Signale, denkt sie, spürt irgendwas, was ihr bekannt vorkommt, seine Anwesenheit, seinen Körper neben ihr an der Kinokasse. Einen Körper, den sie schon zu kennen glaubte und doch nie ganz, sie erinnert sich. Doch hat diese Erinnerung nicht den Charakter einer Ermahnung, sondern den einer Basis, sie setzt den Strohhalm einer Cola-Flasche an, von ihm für sie gekauft.

Im Dunkel des Kinosaals lächelt sie, als er ihre Hand ergreift, noch halb unabsichtlich, dann fester, ein Ineinandergreifen der Hände beim Mustern eines Films mit Untertiteln auf der die Sitze trennenden Lehne. Ein Biergarten nach dem Film, ein erster verhuschter, schüchterner Kuss in der Straßenbahn, in die sie ihr Rad mitgenommen hat, sie hält es mit der linken Hand, seine in der rechten. Ein zweiter Kuss vor dem Eingang ihres Hauses, einem Altbau im Studentenviertel, mit Holztreppen, kleinen, gedrungenen Studentenwohnungen. Sie nimmt ihn mit nach oben, fühlt sich danach, es wäre auch zu schade um diesen Abend, im Zimmer spielt sie ihm ihre neuesten Platten vor, Sommersounds, frisch gekauft, in Plastiktüten vor der Sonne geschütztes Vinyl. Sie lächelt, wippt im Takt, vor dem Plattenspieler kauernd. Die Neunzigerjahre sind vorbei, die Dekade der paranoiden Liebe ist den Weg alles Sterblichen gegangen, denkt er auf ihrer Bettkante, nicht weit von ihr entfernt, während sie die nächste Schallplatte auflegt, ein paar wissende Sätze loslässt, Verschwörungen und Mitwissen, das er goutiert, bevor er ihr langsam durch die Haare fährt, mit einer Hand, ihren Nacken massiert, leicht und federnd, als sie neben ihm sitzt und etwas erzählen wollte, was jetzt luftleer bleibt.

Stattdessen bewegen sich Lippen, der Geschmack ihrer Münder, der alle Gedanken übertönt mit einem Mal, die Gedanken an die Vorgeschichte ihrer Beziehungen, an die Folie ihrer ersten Liebe. Abgestreiftes Kleid, abgestreifte Jeans statt den Gedanken an die Männer und Frauen, mit denen sie vorher geschlafen hatten, Betrogene, Betrügende, nur sie selbst fehlen auf ihren Listen, wie sie still lächelnd feststellen. Ganz aus der Nähe kann man sie nicht mehr erkennen, man sieht nur noch Hautschraffierungen, Poren, schließlich Fleischfarben. Leichte Musik übertönt die Geräusche der Luft, die über die Stimmbänder gedrückt wird, sie kommen endlich zur Sache.

René Hamann ist Schriftsteller, lebt in Berlin und Wien; letzte Veröffentlichung: "Die Verwertung. Gedichte" (Elif-Verlag, 2021).

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