Der Preis der Zeitenwende

Mit Wirtschaftssanktionen will der Westen Russland niederringen. Die Folgen sind weltweit zu spüren

In Deutschland und Europa schwächt sich die Konjunktur ab, die Inflation klettert immer höher. Erklärt wird das zum Großteil mit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Das ist jedoch ungenau. Denn was die Weltwirtschaft erschüttert, ist weniger der Krieg an sich, sondern sind die Wirtschaftssanktionen des Westens und die russischen Reaktionen darauf. An den Sanktionen wird die Kritik laut, sie verursachten Kosten, bewegten Russland aber nicht zur Beendigung des Krieges. Diese Kritik geht jedoch fehl – das Ziel der Sanktionen ist wesentlich weiter gefasst. Sie sind Teil der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende.

Die Weltwirtschaft ist derzeit auf dem Abwärtspfad: Zwischen April und Juni stagnierte die deutsche Wirtschaftsleistung nur noch, teilte das Statistische Bundesamt am Freitag mit. In die USA schrumpft die Produktion bereits seit zwei Quartalen. In der Eurozone wurde zuletzt zwar ein Wachstum von 0,7 Prozent erreicht. Doch die Inflationsrate steigt immer höher. In der Eurozone kletterte sie im Juli auf den Rekordwert von 8,9 Prozent – »der nächste Inflationsschock«, kommentierte die Commerzbank. In Deutschland ging die Rate zwar leicht auf 7,5 Prozent zurück, das lag allerdings nur an den staatlichen Unterstützungsmaßnahmen. Nahrungsmittel verteuerten sich im Vorjahresvergleich um fast 15 Prozent, Energie um knapp 36 Prozent. Für September erwarten Ökonomen wieder eine steigende Inflationsrate. »Leider wird der Gang in den Supermarkt die Haushaltskassen der Verbraucher auch in den kommenden Monaten strapazieren«, prognostiziert die DZ Bank.

Als wesentliche Treiber der Preise gelten die russische Invasion der Ukraine sowie Moskaus Drohungen mit einem Stopp der Gaslieferungen nach Europa. »Die Auswirkungen des Krieges sind überall zu spüren«, so Bundeskanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD), »für viele Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel beim Einkauf im Supermarkt oder an der Tankstelle.« Was die Bürgerinnen und Bürger zu spüren bekommen, ist allerdings weniger der Krieg selbst. Sondern eine globale Verschiebung der Angebots- und Nachfrageverhältnisse, deren Wirkungen durch die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland verstärkt werden.

Der Post-Corona-Boom der Weltwirtschaft hat seit 2020 die globale Nachfrage nach Gütern angeheizt, gleichzeitig hielt das Angebot an Rohstoffen, Zwischen- und Endgütern nicht Schritt. Beschränkt wurde es zusätzlich durch Lockdowns in China und Engpässe der Transportkapazitäten. Folge waren steigende Preise: Nahrungsmittel verteuerten sich allein im Jahr 2020 global um 28 Prozent und 2021 nochmal um 23 Prozent. Die Inflationsrate kletterte von Sommer 2020 bis Februar 2022 in den USA von rund ein Prozent auf fast acht Prozent, in der Eurozone von null auf sechs Prozent. Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine und mit ihm die Wirtschaftssanktionen des Westens.

»Seit 1930 ist kein Land derart umfassend vom globalen Handel ausgeschlossen worden«, schreibt der Ökonom Nicholas Mulder auf dem Blog des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zahlreiche Rohstoffe fänden nun nicht mehr den Weg auf den Weltmarkt. »Die Sanktionen führen in Kombination mit den globalen Lieferkettenproblemen und Materialmängeln zu einem einzigartigen wirtschaftlichen Schock.« Verstärkt wird dieser Schock durch die russische Drohung mit Gaslieferstopps, mit der das Land eine Abschwächung der Sanktionen erreichen will.

Die ökonomischen Kosten der Sanktionen haben in Deutschland und anderen Ländern zu der Kritik geführt, sie seien wirkungslos und erreichten nicht ihr Ziel, nämlich die russische Regierung zum Ende des Krieges zu zwingen. Diese Kritik allerdings übersieht, dass es sich bei den Maßnahmen nicht um Sanktionen im klassischen Sinne handelt, die üblicherweise eine Regierung zum Einlenken bewegen sollen. Vielmehr geht es den sanktionierenden Staaten laut eigenen Aussagen um Größeres: um die dauerhafte Ausschaltung Russlands als geopolitischem Akteur. Dafür setzen sie an der Basis seiner Macht an – der Ökonomie.

»Wir werden den Kollaps der russischen Wirtschaft provozieren«, beschrieb im Februar Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire das Ziel der Sanktionen. Laut EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wolle man »Stück für Stück die industrielle Basis Russlands abtragen«. Gerade die Sanktionen im Finanzbereich »werden Russland ruinieren«, versprach Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Dadurch soll das Land laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin so geschwächt werden, dass es künftig nicht mehr zu Invasionen fähig sei.

Neben Krediten und Waffenlieferungen an die Ukraine sind die Sanktionen also die Hauptfront gegen Russland. Seinen Schiffen werden Häfen gesperrt, über Finanzsanktionen verliert Russland den Zugang zu internationalen Krediten und Investitionsmitteln, vom Zahlungsverkehr wird es abgeschnitten und sein im Westen lagernder Staatsschatz eingefroren. Daneben wird der Einkauf von Kohle, Öl, Gold und anderen russischen Rohstoffen schrittweise beendet. »Wir sollten alles dafür tun, Putin den Geldhahn abzudrehen«, sagte von der Leyen.

Handelsbeschränkungen verhindern, dass Güter der Hochtechnologie aus dem Westen ins Land gelangen – seit Beginn der Sanktionen sind die deutschen Exporte nach Russland um 60 Prozent eingebrochen, und dieser Trend beschleunigt sich. Die aktuelle Drosselung der Gaslieferungen begründet die russische Regierung mit dem Fehlen einer Turbine aus Deutschland – dies mag ein Vorwand sein, er weist aber auf die Abhängigkeit Russlands von Technologie aus dem Westen hin.

Als Reaktion verlassen Konzerne reihenweise das Land. »An jedem Tag, den der russische Krieg gegen die Ukraine andauert, ziehen sich weitere internationale Unternehmen vom russischen Markt zurück und die Krise verschärft sich«, erklärt Catharina Claas-Mühlhäuser vom Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft. Diese Woche berichtete eine russische Zeitung, Volkswagen suche einen Käufer für sein Werk in der Stadt Kaluga.

Da das Ziel der Maßnahmen umfassend ist, »war uns von Beginn an klar, dass wir unsere Sanktionen womöglich lange Zeit aufrechterhalten müssen«, schrieb Bundeskanzler Scholz in der FAZ. In diesem Sinne handelt es sich weniger um beschränkte Sanktionen, sondern um ein neues weltwirtschaftliches Regime – um einen weiteren Schritt bei der »Politisierung der Lieferketten« zur »geopolitischen Neuordnung der Welt«, so Günther Maihold von der Berliner Denkfabrik SWP.

Die Sanktionen zeigen Wirkung. Zwar meldet Russland steigende Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf. Die Wirtschaftsleistung allerdings ist im zweiten Quartal 2022 laut Wirtschaftsministerium in Moskau um vier Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum geschrumpft. Für das Gesamtjahr erwartet der IWF eine Schrumpfung von sechs Prozent, das auf Osteuropa spezialisierte Wiener Institut WIIW sogar von sieben Prozent und das internationale Bankeninstitut IIF von 15 Prozent. Zur Erinnerung: Für Deutschland sagte der IWF im schlimmsten Fall eines vollständigen russischen Gaslieferstopps eine Kontraktion von knapp fünf Prozent voraus. In Russland herrscht also eine Krise, die sich verstärkt: Seine Wirtschaft wird um Jahre zurückgeworfen, es »zeichnet sich ein ökonomischer Schock auf Raten ab«, so das WIIW. Die Produktionsausfälle in der Industrie aufgrund fehlender westlicher Komponenten seien schon jetzt dramatisch.

Russlands Hoffnungen auf China als Ersatzlieferant scheinen sich zu zerschlagen: Laut dem Peterson Institute (PIIE) in Washington sind Chinas Ausfuhren nach Russland zwischen Kriegsbeginn und April um fast 40 Prozent gefallen. »Chinas Exporteure scheinen die Risiken der Verletzung des westlichen Sanktionsregimes internalisiert zu haben«, erklärt Martin Chorzempa vom PIIE. Schließlich laufe jedes Unternehmen, das die Exportbeschränkungen ignoriere, Gefahr, vom Westen bestraft zu werden.

Doch auch der Westen bekommt das Sanktionsregime zu spüren, schließlich kann es seine Wirtschaft nur zum Kampfmittel machen, indem es sie schädigt. Der IWF hat diese Woche seine Wachstumsprognosen für Europa und die USA deutlich gesenkt. In Deutschland ist laut Umfrage des Ifo-Instituts die Stimmung bei den Unternehmen eingebrochen. Es fehlt an Zulieferungen, Güter werden teurer, die Inflation raubt den Konsumenten die Kaufkraft. Preissteigernd wirkt der Versuch, sich unabhängig von russischem Gas zu machen und dafür Flüssiggas (LNG) einzukaufen, das weit teurer ist.

Doch das sind nur die kurzfristigen Folgen, zu denen sich langfristige gesellen können. IIF-Chefökonom Robin Brooks sieht einen »erdbebenartigen Schock für die Eurozone, weil ein so großer Teil des europäischen Wachstumsmodells auf billiger russischer Energie basiert. Damit ist es vorbei.« Gefahr droht insbesondere für Deutschland. »Die aktuelle Gas-Krise und der Wechsel von relativ günstigem russischem Pipelinegas auf teureres LNG könnte einen Strukturwandel für den Industriestandort Deutschland und das deutsche exportorientierte Geschäftsmodell auslösen«, schreibt Deutsche-Bank-Ökonom Erik Heymann in einer neuen Studie. Die energieintensiven Sektoren am Anfang der industriellen Wertschöpfungskette würden weiter unter Druck geraten und der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in den nächsten Jahren beschleunigt sinken.

Diesen Preis zu zahlen, dazu scheint die europäische Politik bereit zu sein. Das trifft viele, »die Folgen der Sanktionen sind längst eine soziale Frage«, schreibt »Perspektiven«, das Magazin der deutschen Metall- und Elektroindustrie, und zitiert den Gesamtbetriebsratschef von BMW, Manfred Schoch: zum Erhalt des Sozialstaats »werden wir auf Leistungen verzichten müssen«.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.