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Norden, Süden, Westen, Osten
Die Berlin Biennale steht dieses Jahr im Zeichen der Dekolonisierung. Osteuropäische Geschichte wird dabei nur vereinzelt thematisiert.
In der gerade laufenden, vom französischen Künstler Kader Attia kuratierten Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst wird sich unter dem Titel »Still Present!« mit nichts Geringerem als dem Joch der Kolonialisierung befasst.
Das Stichwort für die Dekolonisierung, so der in Algerien geborene Kurator, laute »Reparatur« – und soll damit etwas sein, das über die einfache Restitution hinausgeht. Spätestens seit der Präsentation seiner Installation »The Repair, from Occident to Extra-Occidental Cultures« auf der Documenta 13 im Jahr 2012 geht es Attia nicht nur um die Rückführung gestohlener Kunstobjekte in ihre Herkunftsländer, sondern um die Aufhebung des westlichen Konzepts der Moderne selbst.
Er wirft der Moderne ihren Universalismus vor und stellt sie als eine Maske dar, die die Wunden der Kolonisierung verdecken soll. Dabei warnt er davor, dass die verdrängte Vergangenheit immer wiederkehrt. Daher schlägt er, der sich mit der Psychoanalyse beschäftigt hat, vor, Traumata zu konfrontieren, indem man sie benennt und sich dann Herrschaftspraktiken widersetzt. Attia fordert kollektive Handlungen, die die im westlichen Sinne aufgebaute Welt demontieren sollen. Dies soll in Form vielfältiger, emanzipatorischer Erzählungen geschehen, die stets mit den Stimmen der Unterdrückten artikuliert werden – obwohl sie zuweilen auch aus dem Zentrum der Macht kommen.
Allerdings wird der gegenwärtige Zustand, in dem die Folgen der Kolonisierung noch immer internationale Machtverhältnisse bestimmen, auf der Biennale spezifisch verstanden: Er wird hauptsächlich auf das Verhältnis des wohlhabenden Nordens – damit sind hauptsächlich Europa, Nordamerika und einige Commonwealth-Staaten gemeint – zum ausgebeuteten Süden bezogen. Hegemonen wie Russland oder China hingegen wird kaum Platz und keine Aufmerksamkeit eingeräumt. Auch die nationalsozialistische Landnahme im Osten mitsamt der dort stattfindenden Ermordung von insgesamt sechs Millionen Jüdinnen und Juden wird kaum thematisiert. So zeigen die Biennale-Ausstellungen vor allem die Perspektiven von Künstler*innen aus Vietnam, Indien, dem Nahen Osten, Nordafrika oder dem Sudan. Erstaunlich ist die völlige Abwesenheit von Künstler*innen aus der Ukraine und Belarus – Ländern, die nur eine Tagesreise von Berlin entfernt sind. Die Protestwellen in Belarus und der Krieg in der Ukraine haben in den letzten Jahren und Monaten international für Schlagzeilen gesorgt. Zusammen mit Polen, Rumänien und dem Balkan stellen diese Länder ein Reservoir an billigen Arbeitskräften für Deutschland und die gesamte westliche Welt dar, wie besonders während der Zeit der Corona-Pandemie und der deswegen verhängten Lockdowns deutlich wurde. Ist das ungleiche Verhältnis zwischen den europäischen Staaten ein zu komplexes Thema für die Kunstbiennale? Liegen sie zu nah beieinander, um für sie eine angemessene Perspektive zu finden, die einerseits nicht unreflektiert postkoloniale Diskurse übernimmt, die vor allem in der englischsprachigen Welt entwickelt wurden und andererseits die Unterschiede anerkennt, die zweifelsohne bestehen? Wie könnte man über Ungleichheit sprechen, ohne die rassifizierenden ethnischen Unterschiede zu verstärken, die durch Herrschaftssysteme erzwungen werden?
In einem kurzen Text wie diesem können diese Fragen nur oberflächlich behandelt werden. Doch können exemplarisch Werke von zwei der immerhin vier osteuropäischen Künstlerinnen besprochen werden, die dem Kuratorenteam der Biennale aufgefallen sind (Zuzanna Hertzberg, Mila Turajlić und das Duo Marta Popivoda und Ana Vujanović). Die Arbeiten all dieser Künstlerinnen sind in den Kunst Werken in Berlin zu sehen.
Eine Installation von Zuzanna Hertzberg, einer polnischen Künstlerin jüdischer Herkunft, setzt sich mit dem Schicksal der jüdischen Kämpferinnen auseinander, die am Warschauer Aufstand teilnahmen und den Widerstand in den Konzentrationslagern organisierten. Hertzbergs Praxis basiert auf Archivarbeit. Ihr geht es darum, Beziehungen zwischen individuellen Erinnerungen, dem kollektiven Gedächtnis und der historischen Realität herauszuarbeiten. Die 1981 in Warschau geborene Künstlerin kommuniziert die von ihr recherchierten Informationen zum Beispiel in Form von Sprechperformances oder kreiert daraus biografische Banner und Textilien, von denen fünf in der Ausstellung in den Kunst Werken zu sehen sind. Neben dem Erzählen feministischer Geschichten beschäftigt sich Hertzberg auch mit Malerei und sozialem Aktivismus, der sich auf reproduktive Gerechtigkeit fokussiert. Sie tut dies in einem Land, in dem das Recht auf Abtreibung vor zwei Jahren drastisch beschnitten wurde, was Zehntausende von Menschen auf die Straße brachte. Frauensolidarität und Selbstorganisation sind für die Künstlerin also nicht nur historische Themen, sondern von akuter Relevanz.
Neben Hertzbergs Installation wird die Arbeit von Mila Turajlić gezeigt, die 1979 in Belgrad geboren wurde. Turajlić studierte zunächst Politologie und Internationale Beziehungen in London, dann Film in Westminster und Regie in Paris. Heute arbeitet sie als Dokumentarfilmerin in Belgrad und in Paris.
Turajlić ist Autorin des preisgekrönten Films »Cinema Komunisto« und des ihrer politisch engagierten Mutter Srbijanka gewidmeten Films »The Other Side of Everything«. Auf der Berlin Biennale zeigt sie eine Installation, die sich mit dem serbischen Regisseur Stefan Labudović auseinandersetzt. Letzterer wurde oft als »Titos Regisseur« bezeichnet. Er wurde 1959 vom jugoslawischen Präsidenten nach Algerien, Angola und Tansania geschickt, um die Unabhängigkeitskämpfe in den ehemaligen Kolonien zu filmen, die dieser als Ausdruck transnationaler, sozialistischer Solidarität ansah. Turajlić stellt historisches Filmmaterial zeitgenössischen Kommentaren über Algerien gegenüber, insbesondere über die so genannten Hirak-Proteste gegen die despotische Herrschaft des ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika. Die Installation ist Teil eines langfristigen künstlerischen Vorhabens, das die Regisseurin im Zusammenhang mit dem Archiv eines 2017 verstorbenen Kollegen durchführt. Mithilfe verschiedener Ausdrucksformen (Film, Performance, Installation) versucht Turajlić, Titos und Labudovićs Interesse an der Emanzipation der ehemaligen Kolonien zu verstehen, das im Falle des Regisseurs noch durch bewaffnetes Engagement bekräftigt wurde. Sie verweist auf den sogenannten »dritten Weg«, der von der Bewegung der Blockfreien Staaten initiiert wurde, deren erste Konferenz 1961 in Belgrad stattfand. Während des Kalten Krieges wollte Jugoslawien zusammen mit den asiatischen (Indien, Indonesien), arabischen (z. B. Aserbaidschan, Irak) und nordafrikanischen Staaten eine »Koalition für den Frieden« bilden, die sich als unabhängiges Bündnis nicht der imperialen Politik des Ostens (Sowjetunion) oder des Westens (USA) unterwerfen musste.
Die Arbeiten von Mila Turajlić und Zuzanna Hertzberg sind nur zwei Beispiele dafür, wie die die Biennale bestimmenden Themen Kolonialismus, Diskriminierung und Gewalt nicht nur im simplen Nord-Süd-Schema bearbeitet, sondern auch durch die osteuropäische Perspektive erweitert werden können.
Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, bis zum 18. September an verschiedenen Ausstellungsorten in Berlin
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