- Politik
- Repression gegen Linke
Griechische Justiz mit zweierlei Maß
Richter lehnen Freilassungsgesuch eines Anarchisten ab und gestatten prominentem Vergewaltiger Kaution
»Ich bin in der unglücklichen Lage, mitteilen zu müssen, dass ich diesen schwierigen Kampf abbrechen muss, ohne etwas Wesentliches gewonnen zu haben.« Mit diesen Worten setzte ein griechischer Anarchist, der seit 68 Tagen im Hungerstreik war, seinen Protest am Freitag aus. Tags zuvor hatten Richter einen Antrag auf seine bedingte Freilassung abgelehnt. Der 33-jährige Yannis Michailidis betonte in seiner Erklärung, dass er weitermachen werde: »Der Kampf ist jedoch noch nicht vorbei, und ich habe nicht vor, ihn unvollendet zu lassen. Die Unterbrechung ist vorübergehend.«
Kurz nach der Entscheidung des Gerichts kam es zu einer großen Demonstration in der Athener Innenstadt. Videos und Augenzeugenberichte zeugen von einer brutalen Polizeigewalt und Willkür. Die neuen audiovisuellen Dokumente belegen laut der »Zeitung der Redakteure« (efsyn.gr) die willkürlichen Angriffe seitens der Polizei mit Schlägen, Wasserwerfern und Tränengas gegen Bürger. Sie stellen das griechische Ministerium für Bürgerschutz unwiederbringlich bloß und »bestätigen die repressive Politik der Regierung, während das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht«. Mindestens zwei Demonstranten wurden von Ordnungskräften ins Gesicht geschlagen. Einer war schon verhaftet und trug Handschellen, als der Polizist ihn bei der Verhaftung ins Gesicht schlug. Ein Mann im Rollstuhl wurde mit einer Tränengasgranate angeschossen. Laut efsyn.gr handelt es sich bei dem Mann mit Behinderung um Manolis Kypraios, einen Aktivisten, der 2011 bei einem Angriff der Bereitschaftspolizei MAT schwer verletzt worden und seither zu 90 Prozent bewegungsunfähig sei. Berichte über Schläge und Übergriffe auf viele der Versammelten sowie Angriffe auf Fotojournalisten vervollständigten das Klima der Angst, das die Regierung zurzeit auf den Straßen Athens zu etablieren versucht.
Auch der Parlamentarier der Partei von Yannis Varoufakis Mera25, Kleon Grigoriadis, wurde verprügelt. Er berichtete später im Plenum des Parlaments, dass er Tränengas ins Gesicht bekam, mit Schilden gestoßen und Knüppeln bedroht wurde, wobei einer der Polizisten ihn mit den Worten identifizierte: »Geh weg Kleon, geh weg Kleon jetzt, wenn du nicht gehst, werde ich dich …. « Dann griff ein anderer Bereitschaftspolizist ein, hielt seinen Kollegen zurück und sagte: »Was hast du vor, er ist ein Abgeordneter.« Nach Angaben des Abgeordneten schlugen sie ebenfalls den Koordinator der Partei, Konstantinos Daskas, und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Eleni Spetsioti brutal zusammen.
Yannis Michailidis’ Kampf erschien aussichtslos, weil das Berufungsgericht von Lamia entschieden hat, dass sein gutes Verhalten im Gefängnis lediglich eine »Vortäuschung« war. In dem mehrseitigen Urteil wird laut der griechischen Journalistin Anta Psarra mit keinem Wort erwähnt, dass er sich seit mehr als zwei Monaten in einem kräftezehrenden Hungerstreik befindet und dass sein Leben in unmittelbarer Gefahr ist: »Ein Anarchist, der wegen eines Raubüberfalls verurteilt wurde, muss ohne Gnade im Gefängnis bleiben, auch wenn die im Strafgesetzbuch vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind. Mit einer juristischen Begründung, die sich sogar dem gesunden Menschenverstand entzieht, wird Michailidis zur vollständigen Beseitigung geführt.« Michailidis schreibt dazu in seiner Erklärung, dass »das Justizsystem sich blamiert hat« und der einzige Erfolg des Hungerstreiks darin besteht, dass er »dessen Widersprüche deutlich gemacht hat«.
Der Aufschrei ist groß. Während Michailidis, der 2014 inhaftiert und 2016 mit nur einem einzigen DNA-Beweis verurteilt wurde, die gesetzlich vorgeschriebene Zeit von 8,5 Jahren für eine sehr schwere Strafe (insgesamt 20 Jahre) verbüßt hat, wurde Dimitris Lignadis, ehemaliger Direktor des Nationaltheaters und bekannter Freund der griechischen Regierung, bis zum Berufungsprozess gegen eine Kaution von 30 000 Euro auf freien Fuß gesetzt. Und das, obwohl er wegen der Vergewaltigung zweier Kinder zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war. Gegen die Freilassung Lignadis’ hat sich unter dem Hashtag #er_ist_ein_vergewaltiger eine Bewegung gegründet. Sie veranstaltet Proteste mit Transparenten in Theatern und Konzertorten.
Michailidis’ Gesundheitszustand verschlechterte sich täglich; es wird eingeschätzt, dass er kurz davor war, kein Wasser mehr trinken zu können. Er hat 20,6 Kilo abgenommen, mehr als 28 Prozent seines ursprünglichen Körpergewichts. Er gehört zu der Generation, die von der Tötung des 15-jährigen Alexandros Grigoropoulos im Dezember 2008 durch Polizeikugeln in Athen politisch beeinflusst wurde. Auf den Tod Grigoropoulos’ folgte damals ein wochenlanger Aufstand in ganz Griechenland.
Der griechische Staat warf Michailidis vor, eine Rolle bei der bewaffneten Gruppe »Verschwörung der Feuerzellen« zu spielen, später sprachen ihn Gerichte von diesem Vorwurf frei. Der neue Vorwurf lautete, als »Einzelterrorist« an einem Bankraub und einer Schießerei beteiligt gewesen zu sein. Ein Gericht verurteilte Michailidis zu elf Jahren Haft, aber auch dort setzte er seine politischen Aktivitäten fort. Ein Fluchtversuch verlängerte seine Haftzeit abermals.
Seit Wochen fanden zahlreiche Solidaritätsaktionen – von Demonstrationen über Konzerte bis Besetzungen – in ganz Griechenland statt. Die Regierung der rechtskonservativen Nea Dimokratia hat abermals ihre Bereitschaft gezeigt, einen Toten durch Hungerstreik in Kauf zu nehmen. Regierungschef Kyriakos Mitsotakis’ vermutliches Kalkül: Wenn Michailidis gestorben wäre, hätte eine eventuelle Explosion der anarchistischen und linken Szene zu Repressionen à la Erdogan geführt. Das Feld dafür wurde in den vergangenen Monaten und Jahren in Form von innerpolizeilicher Aufrüstung und Überwachung gut vorbereitet.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.