Mister Simon und die Plattenbauten

Sommer in Berlin: Die Hochhäuser der Nachkriegszeit gelten vielen als trist. Der zugezogene Brite Jesse Simon zeigt sie von ihrer farbenfrohen Seite

Ist noch eines der dezenteren Beispiele: Ein Wohnkomplex an der Frankfurter Allee in Lichtenberg
Ist noch eines der dezenteren Beispiele: Ein Wohnkomplex an der Frankfurter Allee in Lichtenberg

Herr Simon, Plattenbauten, heißt es, haben in Deutschland einen eher zweifelhaften Ruf. Geht es um die schönen Ecken Berlins, werden sie eher selten genannt. Was hat Sie dazu getrieben, den ungeliebten Riesen ein ganzes Buch zu widmen?

Nicht zuletzt wegen genau solcher Vorurteile. Es gibt Leute, die Plattenbauten erst einmal mit grauen und bedrückenden Wohngegenden assoziieren. Aber diese Reputation ist im Grunde ja längst überholt: Marzahn-Hellersdorf hat vielleicht vor 20 Jahren unangenehme Gedanken ausgelöst, aber sicher nicht mehr heute. Wer jetzt noch die Nase rümpft, macht das mehr oder weniger aus Prinzip. Auf der anderen Seite gab es dann noch diesen Trend, das Düstere am Plattenbau zu glorifizieren. Eine Zeit lang konnte man auf Instagram fast nur Bilder finden, die absichtlich an den deprimierendsten und grauesten Tagen des Jahres aufgenommen wurden. Ich finde, das verstärkt das Stereotyp oder vielmehr den Mythos vom traurigen Plattenbau nur noch einmal zusätzlich.

Von alledem ist auf Ihren Bildern keine Spur. Die Gebäude strahlen förmlich, Sonnenschein und blauer Himmel, soweit das Auge reicht.

Wer in Berlin wohnt und das Wetter hier kennt, der weiß, dass das nicht gerade einfach war. (Lacht) Mein Buch soll eben das Gegenteil beweisen: Berliner Plattenbauten sind großartig, bunt und einladend. Bei den meisten von ihnen denke ich mir beim Vorbeilaufen überhaupt nicht, dass sie traurig aussehen. Ich denke mir eher, dass ich da gern ein Bier auf dem Balkon trinken würde. Das ist natürlich etwas, was sich im Sommer am besten einfangen lässt.

Menschen sieht man in Ihrem Buch allerdings keine auf den Balkonen sitzen weder mit Bier noch ohne.

Auch wenn es sehr interessant ist, was die Plattenbauten ihren Bewohnern bedeuten: Darum geht es nicht in meiner Arbeit. Ich wollte mich auf die Strukturen, Muster und Texturen der Häuser konzentrieren.

Gut, bleiben wir bei den Gebäuden selbst. Welche Rolle nehmen die Plattenbauten in Berlin ein?

Sie gehören genauso zur modernen Stadt wie die Altbauten in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg, an die alle denken, wenn sie »Berlin« hören. Auf ihre eigene Art und Weise sind sie genauso schön wie dieses klassische Bild von der Stadt. Die Gebiete, die in den 1950ern, 60ern und 70ern entstanden sind, unterscheiden sich zwar sehr von den urbanen Räumen, die im späten 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert geprägt wurden. Das macht sie aber keineswegs weniger erfolgreich. In vielerlei Hinsicht sind sie bis heute sehr attraktive, schöne Orte, an denen Menschen gern wohnen.

Viele Plattenbauten haben einige Veränderungen mitgemacht. Die alten Kacheln der Gebäude wurden von neuen, größeren Elementen verdeckt, hier und da kommt es zu zweifelhaften Experimenten mit besonders grellen Farben oder Gemälden auf der Häuserfront.

Es gab schon immer die Tradition, Plattenbauten zu dekorieren und es nicht bei den Betonoberflächen zu belassen – ganz besonders in Ostberlin. Viele von ihnen wurden ja von Anfang an mit Fliesen verziert. Das hat den Gebäuden eine besondere Identität gegeben. Hätte man die alte DDR-Fassade nach der Wende draufgelassen, hätten die Leute das als alt und merkwürdig empfunden. So aber hat man mehr oder weniger komplett neue Gebäude bekommen. Genau das ist ja eine Stärke der Gebäude: Sie sind geradlinig konstruiert worden und dadurch leicht wandelbar. Es wird also nicht zwangsläufig versteckt, was einmal war, sondern auch das gefeiert, was ist.

In Ihrem Buch haben Sie sich nicht auf den Osten beschränkt. Es finden sich auch Gebäude aus dem Westen Berlins. Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt?

Insgesamt gibt es 205 Bilder im Buch, ich habe aber locker um die 6000 Fotos gemacht und zwar von jeder Nachbarschaft der Stadt, in der Architektur aus der Nachkriegszeit steht. Ich habe es nicht zur strengen Voraussetzung gemacht, dass die Gebäude nach der leichten Plattenbauweise errichtet wurden. Manchmal sind es auch Betonrahmenbauten. Die Idee war, einen Überblick über Gebiete zu geben, die zwischen 1949 und 1989 entstanden sind, als Berlin zweigeteilt war.

Den historischen Kontext liefern Sie mit erklärenden Texten zu jedem Kapitel, am Ende gibt es ein Literaturverzeichnis. Wie haben Sie das recherchiert?

Leider sind die meisten Leute, mit denen ich für das Buch gern gesprochen hätte, heute nicht mehr am Leben. Aber es gibt vieles an überliefertem Material, ganze Archive, die online frei zugänglich sind, mit Plänen und technischen Ausführungen zu den Designs. Ich habe im Grunde mehrere Wochen in der Bibliothek verbracht, mir diese Sachen angeschaut und Interviews mit den Architekten nachgelesen. Mein Buch soll kein wissenschaftliches Buch sein, sondern eine Einführung für Interessierte, die wie ich Freude an der Architektur haben. Das Quellenverzeichnis gibt gleichzeitig die Möglichkeit, tiefer einzutauchen – wenn man denn will.

Auch die Karten zu Beginn jedes Kapitels stammen von Ihnen.

Das war ich meinem kartografischen Hintergrund schuldig. Das Buch hat sich auch deshalb so richtig angefühlt, weil ich in ihm verschiedene meiner Fähigkeiten und Leidenschaften so gut vereinen konnte.

Eigentlich arbeiten Sie hauptsächlich als Designer und unterrichten an einer Privatuniversität. Wie haben Sie zur Fotografie gefunden?

Mein Vater hatte eine Ausrüstung für die Dunkelkammer, mit der ich schon relativ früh herumexperimentiert habe. Wenn ich ehrlich bin, war ich aber nie sonderlich gut. Ich war auch nie so richtig hinterher, anspruchsvolle Fotos zu machen. Der Schalter hat sich erst bei meinem ersten Projekt umgelegt, einem Typografie-Band, für den ich Schilder aus dem alten Berlin fotografiert habe. Da habe ich mir beigebracht, wie man die Technologie richtig verwendet und welche Umstände es zu berücksichtigen gilt. Mit der Zeit bin ich immer besser geworden.

Ob Plattenbauten oder Schilder: In Ihren Arbeiten dreht es sich am Ende auch immer um Berlin, den Ort, den Sie vor zehn Jahren zu Ihrer Wahlheimat gemacht haben. Braucht es Projekte, um die eigene Stadt zu verstehen?

Natürlich gibt es alle möglichen Wege, eine Stadt kennenzulernen. Aber ein Projekt bringt dich dazu, sie auf eine bestimmte, ganz eigene Weise zu sehen. Man braucht so etwas nicht, um eine Stadt genießen zu können, aber es vertieft die Wertschätzung für das, was einen umgibt. Ausgangslage war bei mir das Spazierengehen. Wenn du in eine neue Stadt ziehst, bist du sehr aufgeregt und willst alles sehen. Viele Leute lernen dann erst einmal ihre Nachbarschaft kennen, auch ich habe das so gemacht. Es gibt eine wunderbare Gelegenheit, die urbanen Prozesse zu beobachten, die hier vor sich gehen. Irgendwann bin ich von meiner Wohnung in Kreuzberg in meiner Freizeit buchstäblich überall hingefahren: mit der Bahn nach Zehlendorf, Hellersdorf und so weiter.

Gibt es denn weitere Projekte, die auf dem Plan stehen? Oder sind Sie mit der Hauptstadt jetzt durch?

Es gibt zwei Dinge, an denen ich gerade arbeite, und auch dabei wird es wieder um Berlin gehen. Zum einen klappere ich mit meiner Kamera gerade die U-Bahn-Stationen ab. Ich konzentriere mich dabei auf Motive, von denen ich denke, dass sie den Menschen im Alltag nicht mehr auffallen: auf die schönen Texturen, die Kacheln, die Typografie. Das zweite Projekt dreht sich wieder um Gebäude des geteilten Nachkriegsberlin, dieses Mal aber nicht nur um Wohnhäuser, sondern um ungewöhnlichere Bauten. Außerdem habe ich mich gegen farbenfrohe Bilder und stattdessen für Schwarz-Weiß-Fotos entschieden. Früher oder später erscheinen beide hoffentlich auch als Bücher. An der Universität arbeite ich in Teilzeit, das lässt mir genügend Freiraum, um mich auf meine Projekte zu konzentrieren. Ich habe das große Glück, dass mir beide, sowohl das Unterrichten als auch die Buchprojekte, großen Spaß machen und das bestimmt auch weiter werden.

Interview

Jesse Simon ist Autor, Designer und Dozent. Der 1977 geborene Brite lebt seit 2012 in der deutschen Hauptstadt. Sein erstes Buch »Berlin Typography« erschien 2021 und setzt sich mit Typografie im Berliner Stadtbild auseinander. Der 2022 veröffentlichte Band »Plattenbau Berlin« hingegen widmet sich hochgeschossigen Wohnhäusern aus der Nachkriegszeit. Auch in anderen Arbeiten beschäftigt sich Simon mit der Dokumentation architektonischer Strukturen, Muster und Texturen im urbanen Raum: »U-Bahn Berlin« und »Berlin Modern« sind, wie alle Projekte Simons, auf Twitter zu finden.

Jesse Simon: Plattenbau Berlin. Urbane Wohnarchitektur – Ein fotografischer Rundgang. Prestel 2022, 248 Seiten, 26 Euro.

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