Geflüchtete zweiter Klasse

Der Antiziganismusbeauftragte berichtet nach einer Ukraine-Reise von unhaltbaren Lebensbedingungen der Sinti und Roma

  • Lilli Mehne
  • Lesedauer: 4 Min.

»Roma und Sinti sind doppelt und dreifach von diesem Krieg betroffen.« Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse von Mehmet Daimagüler, die er am Freitag auf einer Pressekonferenz vorstellte. Der erste Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung war Ende Juli für fünf Tage in die Ukraine und nach Polen gereist, wo er sich unter anderem mit Holocaustüberlebenden der Roma traf und über die Lebensrealität von geflüchteten Sinti und Roma vor Ort informierte.

Etwa ein Prozent der ukrainischen Bevölkerung sprechen Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, und viele von ihnen müssen erschreckende Lebensbedingungen aushalten – von mangelnder Infrastruktur über segregierte Bildungseinrichtungen bis hin zu antiziganistischer Diskriminierung auf der Flucht. Bei der Vorstellung der Erkenntnisse, die Daimagüler auf seinem Besuch gesammelt hatte, betonte er, dass die extreme Benachteiligung dieser Minderheit in der Ukraine kein Einzelfall ist. »Antiziganismus ist ein europäisches Problem«, sagte auch Romeo Franz, der für die Grünen im EU-Parlament sitzt und sich seit vielen Jahren für die Belange von Sinti und Roma einsetzt. Er und ein weiterer Experte waren bei der Presseveranstaltung anwesend, um die Perspektiven des Antiziganismusbeauftragten zu ergänzen.

Hintergrund der Reise Daimagülers war der Anstieg antiziganistischer Zwischenfälle gegen Flüchtende aus der Ukraine. Am Mannheimer Bahnhof gab es zum Beispiel eine Situation, in der geflüchtete Roma nicht in einen Schutzraum gelassen wurden, obwohl dieser speziell für Menschen vorgesehen war, die aus der Ukraine am Bahnhof ankamen. In anderen Fällen ist die Zuteilung von Privatunterkünften offensichtlich antiziganistisch: In München wurden bis zu 2000 Menschen in Massenunterkünften untergebracht, wobei nur Ukrainer*innen, die nicht Teil der Minderheit sind, an private Räumlichkeiten vermittelt wurden. Diese Ungerechtigkeiten sind auch in einem Bericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus dokumentiert.

In der Ukraine sind viele Sinti und Roma gezwungen, in Siedlungen zu leben, die von dem Rest der Bevölkerung abgetrennt sind und teils keine santiären Anlagen haben. Dazu kommt eine mangelhafte Gesundheitsversorgung – in den Siedlungen selbst wurden beispielsweise keine Coronaimpfungen angeboten. Außerdem besitzt acht Prozent der Minderheit keine Ausweispapiere und maximal 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen besuchen Regelschulen. Die anderen 85 Prozent der Schüler*innen, die der Minderheit angehören, besuchen segregierte Schulen. Franz nennt die Lebensbedingungen der Sinti und Roma in der Ukraine unmenschlich und fügt hinzu, dass »ihre Lebenserwartung dramatisch niedriger ist« als die der restlichen Bevölkerung. Daimagüler – der als Rechtsanwalt die Hinterbliebenen des NSU im Prozess gegen Beate Zschäpe vertrat – verwies auf die historischen Umstände, die zu der verheerenden ökonomischen Lage vieler Sinti und Roma geführt haben. Im Nationalsozialismus wurde vielen Familien der bescheidene Wohlstand genommen, den sie vor der Besetzung der Nazis angehäuft hatten. Die Menschen wurden vertrieben und in Konzentrationslagern ermordet, weswegen die Überlebenden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder von null anfangen mussten. Dieser Kontext sei wichtig, denn diese Vergangenheit bestimme auch heute noch die Lebensrealität von Sinti und Roma in der Ukraine, sagte der Antiziganismusbeauftragte.

Erschwerend kommt hinzu, dass staatliche Institutionen in der Ukraine antiziganistische Vorurteile weitertragen. »Schockierend« nannte Daimagüler manche der Gespräche, die er mit den entsprechenden Amtspersonen geführt hatte – und auch in Deutschland sei »Antiziganismus in den Behörden auf allen Ebenen« noch zu finden. »Es fehlt an einem Bemühen, buchstäblich mit diesen Menschen zu sprechen«, kritisierte er. Denn Lösungen für die Probleme, mit denen Sinti und Roma konfrontiert sind, könnten immer nur dann gefunden werden, wenn mit den Organisationen der Minderheit auf Augenhöhe gesprochen werde und so Strategien zur Bekämpfung von Antiziganismus ausgearbeitet werden, da sind sich alle drei Experten einig. Die Erarbeitung verbindlicher und umfassender Strategien auf Ebene der EU wurde hierbei als notwendiger Hebel der Veränderung herausgestellt.

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