Die Macht der Träume

In der Verfilmung des legendären Comics »Sandman« kämpfen Unsterbliche miteinander und Menschen ringen um irdische Anliegen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.
Morpheus, Gott der Träume, eine Art stylischer Johnny Rotten.
Morpheus, Gott der Träume, eine Art stylischer Johnny Rotten.

Fantasy-Serien sind für die in der härter werdenden Konkurrenz gerade um Kundschaft kämpfenden Streamingdienste anscheinend der Renner. Amazon will sogar bis zu einer Milliarde Euro in die ersten Staffeln seiner neuen »Herr der Ringe«-Serie stecken, die im September anläuft. Netflix traut sich jetzt an eine Serienadaption des Fantasy-Kultcomics »Sandman« von Neil Gaiman heran, von dem schon behauptet wurde, er wäre gar nicht verfilmbar.

Dabei können sich die zehn Folgen der ersten Staffel dieser ursprünglich zwischen 1989 und 1993 erschienenen Graphic Novel-Reihe, die der Schriftsteller Norman Mailer einmal als »Comics für Intellektuelle« bezeichnete, absolut sehen lassen. »Sandman« entwirft eine komplexe Mythologie, die sich aus antiken und christlichen Versatzstücken speist und in deren Zentrum der Titel gebende »Sandman« (Tom Sturridge), auch genannt Morpheus, eine Art Gottheit der Träume steht. Der wird von einem Londoner Satanisten Anfang des 20. Jahrhunderts gefangen genommen und für über 100 Jahre eingekerkert bis er sich wieder befreien kann. In der Zwischenzeit ist sein in der Serie sehr opulent inszeniertes Traumreich zusammengebrochen und er muss erst seine ihm von Menschen gestohlenen Machtinsignien und die damit verbundenen Fähigkeiten zurückgewinnen.

»Sandman« beginnt ähnlich wie der in diesem Frühling auf Deutsch erschienene argentinische Roman »Unser Teil der Nacht« von Mariana Enriquez als eine Allegorie auf die Unfähigkeit der Menschen, sich kaum kontrollierbarer Kräfte der Natur zu bedienen und am Versuch, sich dadurch Macht zu verschaffen, brutal zu scheitern.

In »Sandman« leiden nach der über 100 Jahre dauernden Einkerkerung von Morpheus, der wie ein stylischer Johnny Rotten aussieht, viele Menschen jahrzehntelang an einer seltsamen Schlafkrankheit, Albträume nehmen ebenso zu wie entgrenzte Gewalt. Später begegnen Morpheus alias Sandman beim Kampf um die Rückgewinnung seiner Fähigkeiten eine ganze Reihe Charaktere, die zeitgemäß in einem woken Sinn verändert wurden, was der Serie aber guttut. So wird aus der im »Sandman«-Comic und auch in anderen DC-Geschichten immer wieder auftauchenden Figur John Constantines die weibliche Johanna Constantine (Jenna Coleman). Und Lucifer als ein wichtiger Gegner von Morpheus ist ebenfalls nicht männlich und wird von Games of Thrones-Star Gwendoline Christie verkörpert. Als abtrünniger Traumdämon, der den Menschen ebenso die Augen ausreißt wie der Sandmann in E.T.A. Hoffmanns Erzählung gleichen Titels wird überdies eine Figur namens Korinther (Boyd Holbrook) zum großen Gegenspieler von Morpheus.

»Sandman« ist Fantasy-, Comic-, Horror- und auch ein wenig Superheldengeschichte, aber vor allem eine intertextuelle Fundgrube, in der Verweise auf Jorge Luis Borges und seine »Bibliothek von Babel« zu finden sind, William Shakespeare in einer der zahllosen Rückblenden in einem anderen Jahrhundert auftritt, und das biblische Brüderpaar Kain und Abel sind Bewohner von Morpheus’ Traumland, wo sie sich einen lebendig gewordenen Gargoyle als Haustier halten.

Mitunter wirkt das alles auch mal ganz schön trashig und beliebig, entwickelt aber vor allem in der zweiten Hälfte der ersten Staffel durchaus dramaturgische Wucht und einen überaus packenden Spannungsbogen. Dabei kommen in den ineinander verwobenen und ein komplexes Narrativ erzeugenden Geschichten der Serie auch zahlreiche queere und nichtweiße Menschen vor, die gegen Ausgrenzung, Rassismus und Missbrauch kämpfen. Diese emanzipatorische Auseinandersetzung führt vor allem auch die junge Rose Walker (großartig dargestellt von der bisher völlig unbekannten jungen Schauspielerin Kyo Ra), die neben Morpheus zur zentralen Figur der Geschichte wird. Die Träume der Menschen funktionieren in »Sandman« eben auch wie eine Quelle emanzipatorischer Möglichkeiten, um die immer wieder heftig gerungen wird. Schließlich beginnen sich langsam sogar die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit aufzulösen und es droht ein alles verschlingendes Chaos. Bis die Serie mit einem Cliffhanger endet, sodass es definitiv eine weitere Staffel dieser ambitionierten Comicadaption geben wird.

Verfügbar auf Netflix

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