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- European Championships 2022 in München
Freie Fahrt den Emotionen
Turnerin Kim Bui und Radfahrerin Lisa Brennauer beenden mit EM-Medaillen ihre langen Karrieren
Ein tränenreiches Wochenende liegt hinter Deutschlands Sportlerinnen. Dabei waren sie überaus erfolgreich bei den European Championships in München. Die meisten Tränen vergossen Turnerin Kim Bui und Radsportlerin Lisa Brennauer am Samstag. Beide schafften es aufs Siegerpodest: Bui war Teil des Teams, das sich erstmals mit Bronze überhaupt eine EM-Medaille in diesem Wettbewerb sichern konnte. Radfahrerin Brennauer gewann kurz darauf in der Einzelverfolgung noch eine Silbermedaille. Am Freitag hatte sie Teamgold gewonnen gehabt. Auch wenn beide mit dieser Ausbeute überglücklich waren, hatten sie doch nicht nur aus Freude geweint. Bui und Brennauer haben ihr Karriereende nach diesen Heim-Europameisterschaften angekündigt. Und Lebewohl zu den Hallen zu sagen, die viele Jahrzehnte lang ihre Leben bestimmt hatten, fiel beiden doch offensichtlich ziemlich schwer.
»Ich will mir noch gar nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn ich bald in die Trainingshalle gehe, und Kimi ist plötzlich nicht mehr da«, musste Elisabeth Seitz sehr schlucken, als sie in den Katakomben der Olympiahalle neben ihrer langjährigen Team- und Trainingskollegin stand. Dann umarmten sich beide und ließen Emotionen wie Tränen freien Lauf. Auch die weiteren Kolleginnen Emma Malewski, Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss bestellten eine Ladung Taschentücher beim Pressesprecher des Deutschen Turner-Bundes (DTB).
Da trat gerade offensichtlich eine besondere Sportlerin von der großen Bühne ab. Nicht umsonst firmiert die deutsche Turnriege in den sozialen Medien als »Bui-Bande«. Dabei war die 33-jährige Tübingerin nie die große deutsche Vorturnerin. WM-Bronze wie Seitz 2018, oder gar ein Weltmeistertitel wie Schäfer-Betz (2017) blieben für sie unerreichbar. Kim Bui hatte bis zur von 5900 Fans frenetisch bejubelten Premieren-Teammedaille »nur« einmal EM-Bronze am Stufenbarren 2011 in Berlin gewonnen. Doch sie war über mehr als ein Jahrzehnt lang die Konstante im deutschen Turnen, der Kitt der alles zusammen hielt.
»Es ist eines der schönsten Gefühle, das als Team zusammen geschafft zu haben. Wir haben uns gegenseitig durch diesen Wettkampf getragen. Ich hatte mir nicht mal erträumt, dass für uns am Ende eine Teammedaille rausspringt. Und jetzt ist sie da«, zeigte sich Bui später überglücklich. Mit sicheren Übungen an Stufenbarren, Boden und Sprung hatte sie an diesem Abend sogar die Hauptlast im Team getragen. Bundestrainer Gerben Wiersma wusste, dass er sich auf sie verlassen kann: »Kim war bis zum letzten Moment total professionell. Das war beeindruckend«, sagte er. »Ich bin glücklich für sie, dass sie so ein Karriereende feiern konnte. Andererseits war sie lange das Vorbild so vieler jüngerer Sportlerinnen, das nun fehlen wird. Und natürlich auch die sicheren Punkte für unser Team. Ich habe da schon sehr gemischte Gefühle heute.«
Die angesprochene Professionalität vor einem erwartungsvollen Heimpublikum war tatsächlich außergewöhnlich. »Erst als der Hallensprecher sagte, dass das meine letzte Bodenübung sein wird, dann mein letzter Sprung, wurde mir das auch klar. Ich war einfach so fokussiert, meine Aufgaben fürs Team zu erledigen. Ich war komplett im Tunnel«, so Bui.
Das hatte Radsportlerin Brennauer nicht ganz geschafft. Sie hat in der kommenden Woche zwar noch zwei Starts auf der Straße vor sich. Aber am Samstag nahm sie bereits Abschied von der Bahn, für die sie in den letzten Jahren ihrer Karriere die Liebe wiederentdeckt hatte. Ich musste vor dem Finale ein paar Mal daran denken, dass das jetzt mein letztes Rennen im Oval sein wird. Das war schon emotional. Im Vergleich zur Qualifikation fuhr die Bayerin nun zwei Sekunden langsamer, das nutzte Teamkollegin Mieke Kröger, die auf den letzten Runden noch an der Weltmeisterin vorbei zu Gold fuhr.
Seitdem die Bayerin vor fünf Jahren in den Vierer zurückgekehrt war, kehrten die deutschen Frauen im Ausdauerbereich wieder in die Weltspitze zurück. Und mehr noch, vor einem Jahr setzten sich die Teamverfolgerinnen mit dem Olympiasieg in Tokio sowie danach auch dem WM-Titel die Krone auf – mehrere Weltrekorde inklusive. Gerechter Lohn: die Auszeichnung zu Deutschlands Team des Jahres 2021.
Dass es auch ohne die 34-jährige erfolgreich weitergehen wird, bewies das Finale in der Einzelverfolgung, das die fünf Jahre jüngere Kröger überraschend gewann. »Ich wusste, dass Lisa schneller losfahren wird. Der Start ist ihre Stärke. Bei mir ist es genau das Gegenteil. Und ich hatte heute noch ein bisschen was im Tank«, freute sich die neue Europameisterin. Ohne ihre Gegnerin, das wusste Kröger, wäre sie nie so weit gekommen. Die Rückkehr von der auch auf der Straße mit WM-Titeln gesegneten Brennauer in die Halle hatte den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) erst Ressourcen in den Vierer investieren lassen. Davon profitierte nun Kröger mit ihrem ersten großen Einzeltitel. Und so war es keine Überraschung, dass sich beide Sekunden später weinend in den Armen lagen.
Überhaupt haben die deutschen Bahnradsportler einen Traumstart in diese EM gefeiert. Nach Kröger hatte schon auch der erst 20-jährige Nicolas Heinrich aus Zwickau die Verfolgerkonkurrenz über 4000 Meter gewonnen. Es war schon der fünfte deutsche Sieg auf der Rennbahn in der Münchner Messehalle C1. Denn zuvor hatte die Cottbuserin Emma Hinze ihrem Titel im Teamsprint noch einen im 500-Meter-Zeitfahren folgen lassen. Mit weiteren Goldmedaillen von Hinze im Einzelsprint und Keirin kann der BDR durchaus noch rechnen. Und vielleicht ja auch noch mit Edelmetall durch Brennauer auf der Straße.
Für Turnerin Kim Bui dagegen war nach dem Finale am Stufenbarren am Sonntagabend, in dem Teamkollegin Seitz sogar Gold gewann, endgültig Schluss. »Natürlich sind wir alle traurig, dass Kimi nicht mehr mit uns auf dem Podium stehen wird, aber trotzdem bleibt die Bui-Bande bestehen«, versprach Pauline Schäfer-Betz. Und wieder wurden die Augen feucht.
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