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Protest gegen den Tod
Musik und Politik in Kriegszeiten: Teodor Currentzis dirigiert Schostakowitschs 14. Sinfonie bei den Salzburger Festspielen
»Umstritten« soll er sein, der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis, so hämmert es uns das Qualitätsfeuilleton seit Jahr und Tag ein. Und jetzt auch noch das: ein »Näheverhältnis« zu Putin wird ihm vorgeworfen, er und sein Orchester werden von »Putins Hausbank VTB finanziert«, so der österreichische »Standard«, er sei mit dem Putin-Regime verstrickt, und »Teile der Klassikwelt« würden darauf mit Empörung reagieren. Wer und was immer das auch sein mag, diese »Klassikwelt« – es drängt sich der Verdacht auf, dass das Feuilleton der bürgerlichen Medien vor allem sich selbst meint, sich also zu einer Wichtigkeit hochjazzt, die es als bloßes Berichterstattungsfeuilleton längst verloren hat.
Die Zeiten sind aufgeheizt und moralisch überladen. Seit Putins verbrecherischem Überfall auf die Ukraine überbieten sich westliche Kulturleute gegenseitig mit wohlfeiler Erregung und fordern von russischen Musikern, Risiken einzugehen und Haltung zu zeigen, die ihnen selbst in aller Regel fremd ist. Alle sollen sich jetzt öffentlich bekennen: Musiker*innen, Komponist*innen, Festival- und Programmmacher*innen. Ein Geßler-Hut ist mitten im deutschen (und österreichischen) Kriegsfeuilleton aufgestellt, dessen einziger Zweck ganz wie bei Wilhelm Tell die öffentliche Erzwingung untertänigen Verhaltens ist. Und wehe, einer verbeugt sich nicht folgsam und unterwirft sich nicht dem Common Sense all derer, die ganz genau wissen, was jetzt zu fordern und zu tun ist.
Der russische Dirigent Valery Gergiev etwa gilt der »FAZ« als »Schattenaußenminister Putins« und als »Kriegsdirigent«. Die Stadt München hat Gergiev als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker am 1. März dieses Jahres fristlos gekündigt, weil er sich trotz Aufforderung durch den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) nicht vom russischen Überfall auf die Ukraine distanziert hat. Das kann durchaus als verlogener Aktionismus gewertet werden – denn dass Gergiev problematische Positionen vertritt, hätte man schon wissen können, als der Münchner Stadtrat ihn im Januar 2013 zum Chefdirigenten gewählt hat: Im Kaukasuskrieg ergriff Gergiev 2008 Partei für Russland, 2012 erschien im russischen Fernsehen ein Werbeclip Gergievs zugunsten der Wiederwahl Putins, und die Anti-Homosexuellen-Gesetze Putins hat Gergiev wohl auch unterstützt. Aber das war dem Münchner Stadtrat egal, man war stolz, Gergiev unter Vertrag nehmen zu können.
Und auch dass Gergiev im März 2014, also weit vor seinem Dienstantritt in München im September 2015, einen offenen Brief russischer Kulturschaffender unterzeichnet hat, in dem die russische Annexion der Krim befürwortet wurde, blieb folgenlos. Man wusste in München sehr genau, wen man sich da als Chefdirigenten der Philharmoniker eingekauft hatte, und das galt erst recht bei der Vertragsverlängerung bis zum Jahr 2025, die der Stadtrat 2018 gegen die Stimmen der Grünen vollzogen hat. OB Reiter damals: »Die Vertragsverlängerung von Maestro Gergiev ist für uns ein Glücksfall«, mit Gergiev habe die Stadt einen Chefdirigenten, »um den viele andere Orchester und Klassikmetropolen München beneideten«.
Was kümmert mich mein Geschwätz von vorgestern: Im Februar 2022 verlangte der Münchner OB plötzlich medienwirksam von seinem »Glücksfall« ein Bekenntnis gegen Putins Krieg, das der Dirigent, der seinen Lebensmittelpunkt in Russland hat und in St. Petersburg das Mariinsky-Theater leitet, offensichtlich nicht geben wollte. Was Gergiev wirklich zum Überfall auf die Ukraine denkt, weiß niemand, es gibt bis heute kein öffentliches Statement von ihm.
Was den Fall Valery Gergiev mit Teodor Currentzis verbindet, ist, dass sie beide in Russland tätig sind und dort ihren Lebensmittelpunkt haben, dass sie beide also Verantwortung tragen für Opernhäuser und Festivals, vor allem aber: für Hunderte von Musikerinnen und Musikern, für Menschen also, die sie mit einer öffentlichen Distanzierung von Putin und seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine massiv gefährden würden. In Russland steht dieser Tage ja schon die Wortwahl »Krieg« unter Strafe.
Was sie aber trennt: Von Currentzis sind sehr wohl Äußerungen zu vernehmen, was er von Putins Krieg hält, und zwar in seinem ureigensten Metier, nämlich in der Musik und bei seinen Konzerten. Als Chef des SWR-Orchesters hat Currentzis Werke ukrainischer Komponisten aufgeführt, zu Beginn der Salzburger Festspiele hat er mit dem Gustav Mahler Jugendorchester Schostakowitschs »Babi Jar«-Sinfonie aufgeführt, deren fünf Orchesterlieder sich mit dem Massenmord an mehr als 33 000 jüdischen Frauen, Kindern und Männern auseinandersetzen, den 1941 die deutsche Wehrmacht zusammen mit SS-Einsatzgruppen in einem Tal auf dem Gebiet von Kiew begangen haben. Keiner der Offiziere der Wehrmacht, die sich an Vorbereitung, Durchführung oder Vertuschung des Massakers beteiligt hatten, musste sich jemals vor Gericht verantworten; lediglich SS-Angehörige wurden verurteilt.
Doch auch in der Sowjetunion wurde das Massaker nach dem Kriegsverbrecherprozess von Kiew 1946 weitgehend verschwiegen, Stalin hatte bereits während des Kriegs eine Kampagne gegen die sowjetischen Juden initiiert. Erst 1961 unter Chruschtschow wurde die Veröffentlichung des Gedichts »Babi Jar« von Jewgeni Jewtuschenko genehmigt, das Schostakowitsch in seiner Sinfonie verwendet hat. Die eindringliche Interpretation dieses Werks durch Currentzis, der im ersten Satz das jüdische Totengedenken, gesungen vom Kantor Naftali Wertheim, in die Aufführung integrierte, sollte als künstlerisches Statement eigentlich allen klar machen, wo der Dirigent politisch steht, zumal seit langem bekannt ist, dass Currentzis eher Sympathien zum Beispiel für die spanische anarcho-syndikalistische Gewerkschaft CNT hat als für diktatorische Autokraten.
Wem das noch nicht reicht: Im Wiener Konzerthaus hatte Currentzis im Frühjahr ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine geplant, der Erlös sollte der Caritas übergeben werden. Es war der ukrainische Botschafter, der die Annahme des Geldes verweigert hat, weil es von russischen Musikern erspielt wurde – so, wie es in der Ukraine politische Bestrebungen gibt, die Aufführung von Musik russischer Komponisten gänzlich zu unterbinden. Kein Tschaikowsky mehr, kein Prokofjew, kein Schostakowitsch? Derart abstruse Forderungen sind längst auch im Westen, in dem doch angeblich Kunstfreiheit herrscht, an der Tagesordnung: Das Cardiff Philharmonic Orchestra hat im März Werke von Tschaikowsky vom Programm gestrichen, ebenso Freiburger Generalmusikdirektor sein Dirigat von Prokofjews »Peter und der Wolf« bei einem Benefizkonzert für die Ukraine mit der Begründung abgesagt, es sei zwar »ein perfekt kindergerechtes Werk, allerdings von einem Komponisten, der 1936 Paris verlassen hat, um in der größten Zeit der stalinistischen Säuberungen in Moskau zu leben, und so der große offizielle Komponist der UdSSR wurde.« Der Irrsinn kennt keine Grenzen.
Umso höher ist die Haltung des Salzburger Festspiel-Intendanten Markus Hinterhäuser einschätzen, der immer wieder klarmachte, an Currentzis festhalten zu wollen. Hinterhäuser verweist darauf, dass es keine einzige Bemerkung von Currentzis gebe, die Sympathie für das System Putin oder für Russlands Krieg gegen die Ukraine zum Ausdruck gebracht hätte. Ganz im Gegenteil: »Sein ganzes Wirken sehe ich als Gegenmodell«, stellte Hinterhäuser fest.
Ein wesentlicher Teil der Kritik an Currentzis besteht darin, dass seine MusicAeterna Ensembles, also das Orchester und der Chor, von der russischen VTB-Bank unterstützt wird, und dass MusicAeterna mit Unterstützung von Gazprom Tourneen in Russland unternimmt. Das mag unfein klingen, nur: wie sonst soll sich ein freies Ensemble in Russland oder hierzulande finanzieren, wie sonst auf Tournee gehen? Denn auch die gesamte hiesige Klassikszene hängt am Tropf mindestens problematischer, zum Teil sogar verbrecherischer Konzerne, die die Klassiktempel und die einschlägigen Events sponsern und damit munter Whitewashing betreiben.
Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen. Die Deutsche Bank zum Beispiel, Hauptsponsor der Berliner Philharmoniker, steht im Mittelpunkt so vieler Skandale und internationaler Strafverfahren, dass man sie kaum mehr zählen kann. Die Audi AG, die zum Volkswagen-Konzern gehört und eine der Hauptsponsoren der Salzburger Festspiele ist, sah sich massiven Manipulationsvorwürfen der US-Justiz ausgesetzt und musste wegen umfangreicher Abgasmanipulationen allein in Deutschland ein Bußgeld in Höhe von 800 Millionen Euro bezahlen.
Oder die Kühne-Stiftung, die ebenfalls zu den Hauptsponsoren der Salzburger Festspiele zählt: Die Firma Kühne + Nagel wurde, nachdem der jüdische Mitinhaber Adolf Maass 1933 aus der Firma »ausgeschieden« war (er starb später in einem Vernichtungslager), ein Großprofiteur des Nationalsozialismus, ein geschäftsmäßiger Plünderer, der als logistisches Rückgrat des Vernichtungsfeldzugs der deutschen Wehrmacht im Osten Zehntausende Wohnungen vertriebener, deportierter und ermordeter Jüdinnen und Juden leerräumte. Bis heute verweigert sich Klaus-Michael Kühne der Aufarbeitung der Firmengeschichte im NS-Staat. Zuletzt trat Kühne mit seinem »Angebot« hervor, die denkmalgeschützte Hamburger Staatsoper abzureißen und den Bau eines Opernhauses in der Hafencity durch den dubiosen Robert Benko vorzufinanzieren; auf dem frei werdenden Grundstück soll ein von Benko finanziertes Immobilienprojekt errichtet werden. Gustav Knepler hat einmal bemerkt, dass die alten Pharaonen und die »Monopol-Herren und Aufsichtsratsvorsitzenden von heute eine bestimmte Ähnlichkeit« haben.
Die Klassikszene jedenfalls bietet den deutschen Großkonzernen und ihren Sonnenkönigen längst eine ultimative Version von whitewashing an, nämlich eine Rolle als Kooperationspartner, die weit über das altmodische Sponsoring hinausgeht. Diese Konzerne wissen, dass sie in der »Klassikwelt« der schillernden Großevents just das zahlungskräftige Publikum erreichen, das sich ihre Produkte leisten kann. Hat man über dieses problematische Kultursponsoring je einen Artikel im Feuilleton gelesen oder eine Sendung im Rundfunk gehört? Ist Sponsoring etwa nur dann problematisch, wenn es von russischen Konzernen betrieben wird? Eine generelle Diskussion und Neubestimmung des Kultursponsorings ist dringend vonnöten!
Und die Musik? In einem spektakulären Konzert im seit langem ausverkauften Großen Festspielhaus führten Orchester und Chor von MusicAeterna unter Teodor Currentzis mit einer Reihe hochkarätiger Solistinnen und Solisten Schostakowitschs 14. Sinfonie auf, einen klingenden Protest gegen den Tod und speziell gegen den von Menschenhand verursachten, sei es durch Mord, gewaltsame Verfolgung oder Krieg.
Der Komponist hat diese Sinfonie, eher ein Oratorium, 1969 schwer krank im Kreml-Hospital geschrieben, wo er aufgrund einer Grippeepidemie in Quarantäne lag. Kammermusikalisch intime Sätze, in denen der Bariton Matthias Goerne tragische Monologe voller Intensität gestalten konnte, etwa »De profundis« nach Worten des 1936 im Spanischen Bürgerkrieg standrechtlich erschossenen Dichters Federico García Lorca (»Einhundert heiß Verliebte schlafen für immer, schlafen unter der trocknen Erde«), wechseln sich mit wilden Totentänzen oder dem dramatischen Duett »Loreley« von Apollinaire (nach Brentano) ab. Im Zentrum steht ein dreiteiliges Adagio, in dem der Bass das Wort hat, »ein ehrenhafter Mann, der schreiendes Unrecht erleidet und dagegen protestiert« (Schostakowitsch).
Ein furioser Höllenritt ist die »Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel« – die Kosaken belegen ihren Gegner mit einer Tirade voller Beleidigungen und voll Abscheu (ob man daraus einen »Protest gegen alle Despoten dieser Welt« lesen kann, wie das Programmheft meint, mag dahingestellt bleiben): »Du bist schlimmer als Barrabas, Beelzebub ist dein Freund, und du frisst nichts als Unflat und Dreck. Du verfaulter Kadaver, blutiger Traum ohne Sinn«, und was sie über seine Mutter sagen, will ich lieber gar nicht erst zitieren. Auf Neuköllns Straßen hört man kaum schlimmere Beleidigungen, und Kapitän Haddocks Flüche sind liebreizend dagegen. Sie wünschen dem Sultan »Pest und Aussatz in deinem Gebein«, und darauf folgt ein furioser Streicherausbruch, den Currentzis natürlich zur Ekstase geraten lässt. Die fabelhafte Sopranistin Nadezhda Pavlova gestaltet das Largo »Der Tod des Dichters« als ein eindringliches Zwiegespräch mit Geigen und später auch tremolierenden Bratschen, bevor Celli und Kontrabasse zu einer klagenden Melodie zusammenfinden.
Ein bedrohlich-furioses »Schlußstück« nach dem Rilke-Gedicht beendet das anspruchsvolle, fast einstündige Werk, ein makabrer Rausschmeißer mit Kastagnetten, Holzklappern und abenteuerlichem Streichercrescendo bis zum dreifachen Fortissimo, das abrupt mit sechzehn Zweiunddreißigsteln endet: Schostakowitsch wollte laut eigener Aussage verdeutlichen, »dass der Tod bei jedem unserer Schritte auf der Lauer liegt«. »Der Tod ist groß« (Rilke).
Nach der Pause Purcells Musikdrama-Mix »Dido and Aeneas« mit wundervollen Arien, mitreißenden Tänzen und großartigen Chorszenen. Echte Hits sind der Echo-Chor der Hexen, der im Volkston komponierte Matrosenchor und eben die brillanten Tänze. Currentzis und die MusicAeterna-Ensembles sowie die herausragende Sopranistin Kate Lindsey – mit ihrer dunklen Stimme manchmal nicht mehr von dieser Welt – präsentieren ein entfesseltes, atemberaubendes und schillerndes Gesamtkunstwerk – das mit der eindrucksvollen Lamento-Arie »When I am laid in earth« (»Wenn ich in der Erde ruhe, mögen meine Irrtümer nicht dein Herz betrüben«), dem eindringlichen »Remember me, but ah! forget my fate« (»erinnere dich an mich, doch, ach, vergiss mein Schicksal!«) und dem folgenden ersterbenden Chor, alle in der Schmerzenstonart g-moll, unvergessen bleibt.
Atemlose Stille. Dann ein langanhaltender Jubelsturm. Das Publikum hat sich eindeutig entschieden – für die Musik und für ihre genialen, alle in ihren Bann ziehenden Protagonisten, für Teodor Currentzis und für MusicAeterna.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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