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  • »Der Gesang der Flusskrebse«

Im Sumpf der Instinkte

Die Romanverfilmung »Der Gesang der Flusskrebse« handelt vom individualistischen Überlebenskampf in der Natur. Ihre Botschaft ist auch das Dogma der US-amerikanischen Gesellschaft.

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Morbide Idylle: Kya (Daisy Edgar-Jones) und Tate (Taylor John Smith) im Marschland von North Carolina
Morbide Idylle: Kya (Daisy Edgar-Jones) und Tate (Taylor John Smith) im Marschland von North Carolina

Marschland ist nicht gleich Sumpf, so erfahren wir gleich am Anfang. Obwohl es im Marschland zweifellos viele Sümpfe gibt. Das »Marschmädchen« Kya, die für die Kleinstädter gleich nebenan eine Art Wilde ist, die nicht zu ihnen gehört, muss es wissen. Denn Kya lebt hier seit Jahren allein.

Ihr Vater, ein prügelnder Alkoholiker, hat die Mutter und die Geschwister in die Flucht getrieben. Plötzlich verschwindet er selbst. Kya bleibt allein in dem primitiven einsamen Haus inmitten des wuchernden Grüns zurück. Das lässt an Henry David Thoreaus »Walden« denken. Eine US-amerikanische Urszene: Kämpfe um dein Überleben, werde zum Neulanderoberer! Alles, was Kya weiß, weiß sie von dieser merkwürdigen Natur hier, die halb giftiger Sumpf, halb durchsonntes Arkadien zu sein scheint.

Die US-amerikanische Regisseurin Olivia Newman hat im Expresstempo »Der Gesang der Flusskrebse«, den Bestseller von Delia Owens, in vor Schönheit schwelgenden Bildern verfilmt. Taugt diese sicher lukrative Zweitverwertung etwas? Schon, denn der Film folgt dem Erzählbogen nicht nur, er trägt ihn auch – und dennoch hätte man sich einen ausgeprägteren Sinn für Brüche, für seelische Beschädigung, für äußere Gefahr und Schmutz aller Art gewünscht. Mehr Würde der Schwachen als Wille zu Selbstermächtigung. Dieser Dschungel wirkt zudem so aufgeräumt wie ein Reihenhausvorgarten in einer amerikanischen Vorstadt. Man ahnt durch die so ausgelöste Beklemmung das kommende Unheil. Die morbide Idylle, die etwas von einem Hitchcock-Opus hat, offenbart ihren tiefsten Abgrund allerdings erst ganz am Ende.

»Der Gesang der Flusskrebse« ist eine schrecklich-schöne Parabel auf die menschliche Natur. Es ist ein sehr amerikanisches Buch und nun auch ein solcher Film. Wenn man dir dein Recht vorenthält, dann verschaffe es dir – egal mit welchen Mitteln und um welchen Preis! Diese kompromisslose Botschaft, das Menschenbild charakterisierend, auf dem die US-amerikanische Gesellschaft beruht, verbirgt sich lange im poetischen Schwelgen in der Natur – aber sie ist zentral. Kya selbst sagt dazu: »Ich weiß nicht, ob die Natur eine dunkle Seite hat oder nur einfallsreich ist, um zu überleben.«

Owens Buch über eine Außenseiterin, die allein im Marschland aufwächst, wurde während des Corona-Lockdowns weltweit zum Bestseller. Der klaustrophobische Zeitgeist stand Pate. Trotz Isolation, Einsamkeit und Bedrohung beugt Kya sich nicht dem Druck der bigotten Kleinstadtgesellschaft, die sie nicht versteht, für die sie bloß eine Wilde ist, ein Fremdkörper, den man ablehnt. Aber sie geht ihren Weg allein und am Ende triumphiert sie über die Kleingeister, sie, die nur einen Tag lang zur Schule ging, wo man sie verlachte und beschimpfte, die sich selbst erzog und ihrem Leben ein eigenes Gesetz gab. Dieses Gesetz habe sie vom Marschland gelernt, sagt sie. Es sei eines, das aus den Instinkten komme.

Owens hat die besondere Naturszenerie in ihrem Buch sehr differenziert dargestellt, was dann im Film jedoch kaum eine Rolle spielt. Das Marschland sei der »Friedhof des Atlantik«, war zu lesen, voller unberechenbarer Untiefen hinter der »zerfaserten Küstenlinie« North Carolinas. Bevölkert wurde dieses Land, das als wertloses Brachland galt, zuerst von meuternden Matrosen und entlaufenen Sklaven – eine explosive Mischung, die zur Wildheit der Natur passt, die hier ebenso üppig wie giftig ist. Es ist kein Paradies, es sei denn ein verfluchtes. Schön, voller seltsamer und seltener Lebewesen, aber immer in unzähligen Gefahren gefangen. Wer überleben will, muss andere töten, so die Raubtierlogik der Sümpfe.

Und Kya? Sie zeichnet und malt in Betrachtung versunken Schmetterlinge und andere Insekten, versteht es, wie man heute so gern sagt, das Marschland »zu lesen«. Mit Mitte 20 hat sie, bis eben noch Analphabetin, ein farbenprächtiges Buch über die Tiere, mit denen sie aufgewachsen ist, beendet, das auch sofort verlegt wird. Diese Geschichte vom asozialen Kind, das zur Expertin für Naturkunde wird, wirkt doch recht glatt.

Dann gibt es tatsächlich eine Leiche im Sumpf: ein junger Mann aus der Kleinstadt, Casanova-Typ, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, das »Marschmädchen« zu erobern, das heißt zu verführen oder – je nachdem – zu vergewaltigen. Nun ist er tot, des Nachts abgestürzt von einer Aussichtsplattform im Sumpf. Unfall oder Mord? Kya, die man in der Kleinstadtgemeinde ohnehin hasst, wird schnell vorverurteilt, einige Indizien und viele Gerüchte sprechen gegen sie. Aber sie findet auch Verbündete, etwa einen pensionierten Anwalt (David Strathairn), der sie vor Gericht virtuos verteidigt – und der Kleinstadtmafia den Spiegel vorhält.

Dass dieser dicht am Rande der Kolportage angesiedelte Film nicht gänzlich ins Kunstgewerbliche kippt, liegt vor allem an den Hauptdarstellerinnen: Die 11jährige US-Schauspielerin Jojo Regina zeigt Kya tatsächlich eindrucksvoll als wildes Kind, die Britin Daisy Edgar-Jones lässt sie als junge Frau dann so hermetisch wirken wie eine Festung. Widerstandskraft braucht sie auch, denn sie sitzt in der Zelle, als sie ihre Lebensgeschichte erzählt.

Was Buch und Film verbindet, ist der alles entscheidende Gedanke, dass es immer unsere Kindheit sei, die unser weiteres Leben bestimme. »Ich werde nicht in Angst leben« – dieser Entschluss Kyas ist Drohung und Rettung zugleich. Das Gefängnis werde sie, die unter Mordanklage steht, so oder so bald verlassen. Was heißt: lebend oder tot.

Sie folgt unbeirrt ihrem Traum von den noch unentdeckten Pflanzen und Tieren im Marschland. Und sie trägt die Erinnerung an Tate (smart: Taylor John Smith) mit sich, einen Freund, der zu den wenigen Menschen gehört, denen sie vertraut. Als sie sich zum ersten Mal küssen, werden sie von Blättern auf eine Weise umtanzt, wie das nur Hollywood in Szene setzen kann.

Und doch ist die Botschaft inmitten der Überfülle von Natur unvermindert aggressiv. Kya verkörpert sie auf anziehendste Weise, und steht damit dennoch in einer langen Reihe amerikanischer Helden vom Revolverhelden der Südstaaten bis zu Rocky und Rambo: »Ein Mensch, der in die Enge getrieben wird, verzweifelt oder isoliert ist, greift auf die Überlebensinstinkte zurück. Schnell und gerecht. Die Instinkte werden immer Trumpfkarten sein.« Es bleibt die Frage, wie die Instinkte gezähmt werden können.

»Der Gesang der Flusskrebse«: USA 2022. Regie: Olivia Newman. Buch: Lucy Alibar. Mit: Daisy Edgar-Jones, Jojo Regina, Taylor John Smith. 126 Minuten, jetzt im Kino.

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