Überall nur Hindernisse

Von wegen barrierefrei! Für Menschen im Rollstuhl ist es noch immer oft Glücksache, ob sie mit der Bahn fahren können

Bobby (links im Rollstuhl) und Cécile Lecomte (rechts) sowie ihre Mitstreiter*innen vom »Rollfenden Widerstand« fordern den Abbau von Barrieren an Bahnhöfen.
Bobby (links im Rollstuhl) und Cécile Lecomte (rechts) sowie ihre Mitstreiter*innen vom »Rollfenden Widerstand« fordern den Abbau von Barrieren an Bahnhöfen.

In etwa vier Metern Höhe hängen Cécile Lecomte und drei weitere Menschen am Samstagvormittag über dem Eingang des Bahnhofs Frankfurt West. Cécile und einer ihrer Mitstreiter sitzen bei der Aktion in Rollstühlen. Zwischen ihnen hängt ein Transparent mit der Aufschrift »Mobilitätswende für alle«. Dass sie ihren Protest in Frankfurt durchführen, ist kein Zufall. Neben Berlin ist die Stadt am Main Sitz der Deutschen Bahn. Und die Aktivist*innen der Gruppe, die sich »Rollfender Widerstand« nennt, sind sauer auf den Konzern. Der Name der Gruppe ist ein Kunstwort und leitet sich daraus ab, dass in ihr sowohl Menschen beteiligt sind, die im Rollstuhl sitzen, als auch solche, die laufen können. Warum sie sauer auf die Bahn sind, lässt sich am Bahnhof Frankfurt West erleben. Dort ist nur ein Gleis barrierefrei zu erreichen, der Umstieg zur S-Bahn geht ausschließlich über Treppen und Rolltreppen.

Der Bahnhof soll zwar bald umgebaut werden, aber noch ist die Situation miserabel. Ein kleiner Junge, der gerade so dem Kinderbuggy entwachsen ist, staunt über die Menschen, die an der Fassade hängen. Seine Mutter erklärt ihm, dass die Menschen mit den Rollstühlen nicht laufen können und deswegen Aufzüge brauchen, um an die Bahnsteige zu kommen: »Für uns ist das einfach nur ärgerlich, wenn Aufzüge fehlen, aber die können dann gar nicht mit der Bahn fahren«, erklärt sie.

Dass man etwas Spektakuläres tun muss, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, das weiß Cécile Lecomte genau. Die aus Frankreich stammende Aktivistin klettert seit ihrer Jugend und verbindet das seit Jahren mit politischem Aktivismus. Ob gegen die Urananreicherung in Gronau, Braunkohle in der Lausitz oder die Europäische Zentralbank in Frankfurt – Lecomte klettert dagegen an. Wegen einer chronischen rheumatoiden Arthritis benötigt sie seit einigen Jahren einen Rollstuhl. Lecomte, die sich wegen der Kletterei auch Eichhörnchen nennt, will sich durch den Rollstuhl in ihrem Aktivismus nicht einschränken lassen.

Mit der Bahn führe das immer wieder zu Streit, erzählt sie. Anfang des Monats wurde sie von Bundespolizisten aus einem Zug geschleift. Die Bahn wirft ihr in einer Stellungnahme »renitentes Verhalten« vor. Lecomte sieht das anders. Sie habe bei der Zugfahrt an dem einzigen Platz gesessen, der aus ihrer Sicht für einen Rollstuhl geeignet ist. Eine Schaffnerin habe aber gewollt, dass sie Platz macht für eine Frau mit Kinderwagen. Es gab Streit. Die Bahn-Mitarbeiterin rief die Polizei, Cécile wurde aus dem Zug geholt, fand sich am Bahnhof in Göttingen wieder. Wäre sie nicht mit einem Begleiter unterwegs gewesen, der ihr in den nächsten Zug half, wäre sie dort wohl gestrandet. Eine Unterstützung durch die Bahn hätte es wohl nicht gegeben. Der Mobilitätsservice muss in der Regel bis um 20 Uhr am Vortag einer Reise angemeldet werden.

Probleme mit der Bahn kennt man auch bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. Deren ehemalige Geschäftsführerin Sigrid Arnade klagt derzeit gegen das Bundesverkehrsministerium. Der Grund: Eigentlich steht im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes, dass überall dort, wo es keine Barrierefreiheit gibt, sie durch angemessene Vorkehrungen ausgeglichen werden muss. Realität ist das vielerorts aber nicht. Oft sind es nur die wenigen großen Umsteigebahnhöfe, die rund um die Uhr entsprechende Servicekräfte haben, die für einen Einstieg mit Rampen oder Hebebühnen behilflich sein können. Und längst nicht überall gibt es ausreichende Fahrstühle, um von einem Gleis zum anderen zu kommen. Auf »kobinet«, einem Portal für Nachrichten zur Behindertenpolitik, erklärt Arnade das Ziel ihrer Klage: »Wir wollen zu allen Zeiten mit der Bahn fahren, wenn Züge rollen – unabhängig von den Dienstzeiten des Bahnpersonals.«

Selbstbestimmt den Zug benutzen, das ist auch das Ziel der Aktionsgruppe um Cécile Lecomte, die ihren Protest nicht erst mit der Kletteraktion in Frankfurt begonnen hat, sondern schon am Tag zuvor in Köln am Bahnhof Messe/Deutz. Um auf Barrieren aufmerksam zu machen, ist der Bahnhof ideal. Am Freitagvormittag stehen 15 bis 20 Menschen vor dem Bahnhof. Einige mit Rollstuhl wie Cécile oder eine Frau aus Wuppertal. Die wollte kürzlich mit der Schwebebahn fahren, was ihr der Bahnfahrer aber verweigerte. Er habe schon eine Verspätung und keine Zeit, die Rampe für den Rollstuhl auszufahren, sagte er. Die Frau blockierte daraufhin den Eingang und rief, dass sich die Verspätung noch vergrößern würde, wenn der Fahrer sie nicht mitnehmen werde. Daraufhin konnte die junge Frau doch mitfahren, durfte sich in der Bahn aber eine Durchsage anhören, dass sie für die Verspätung verantwortlich sei.

Medienberichte über den Vorfall führten dazu, dass sich der Schwebebahnbetreiber, die Wuppertaler Stadtwerke, für das Verhalten des Fahrers entschuldigte. Solche und ähnliche Geschichten können die meisten Teilnehmer*innen des Protests erzählen. Immer wieder werden sie an Haltestellen stehengelassen oder für Verzögerungen verantwortlich gemacht. Um zu demonstrieren, wie kompliziert eine Bahnfahrt sein kann, fährt ein Teil der Gruppe am Freitag von Köln nach Frankfurt. Aber nicht alle Mitglieder des Rollfenden Widerstands können oder wollen sich das zumuten. Ein Aktivist mit einer Immunschwächeerkrankung fährt zwar auch nach Frankfurt, nimmt aber im Gegensatz zum Rest der Gruppe den ICE. Volle Regionalzüge kann er wegen seiner Erkrankung nicht benutzen.

Cécile Lecomte, Bobby, der auch einen Rollstuhl benötigt, und eine kleine Gruppe von Fußgänger*innen wollen in Köln Deutz die Fahrt antreten, was sich aber erwartungsgemäß als schwierig erweist. In der Haupthalle des Bahnhofs gibt es nämlich keine Rolltreppe zum Gleis. Ein Mitarbeiter der Bahn, der die Gruppe schon länger unauffällig begleitet hat, schlägt vor, sie könnten doch zur U-Bahn und mit einem Umstieg in die Innenstadt zum Hauptbahnhof fahren; dieser Weg sei mit Aufzügen möglich. Mit dem Zug sind es von Deutz zum Hauptbahnhof keine fünf Minuten Fahrtzeit. Der vorgeschlagene Umweg würde jedoch mindestens 20, eher sogar 30 Minuten beanspruchen. Keine Alternative für den Rollfenden Widerstand. Ein zweiter Aufgang zu den Gleisen am Bahnhof Deutz ist mit Rolltreppen ausgestattet. Der Bahn-Mitarbeiter rät zwar davon ab, diese zu benutzen, weil man bei Unfällen nicht versichert sei. Aber mit ein wenig Hilfe auf der Rolltreppe schaffen es Cécile Lecomte und Bobby hoch zum Gleis. Ganz selbstbestimmt ist das zwar nicht, aber immerhin sind sie nicht abhängig von der Bahn.

Am Gleis kommen die Aktivist*innen ins Gespräch mit einem Bahnmitarbeiter. Der gibt offen zu: »Sie haben ja recht, dieser Bahnhof ist für Sie schlimm, für uns schlimm, für alle schlimm. An Ihrer Stelle würde ich es genauso machen.« Auch er würde protestieren und auf Verbesserungen der Situation dringen. Er ist hilfsbereit. Mit dem Fahrer des Regionalzugs telefoniert er, sorgt dafür, dass eine Rampe bereitsteht, und sagt den Aktivist*innen, wo sich der für Rollstühle geeignete Wagen befindet. Der Einstieg funktioniert reibungslos. Der Regionalzug ins Rhein-Main-Gebiet beginnt in Köln Deutz und ist noch leer. Doch schon zwei, drei Stationen weiter wäre es für die Rollstuhlfahrer*innen fast unmöglich, in den Zug zu kommen.

Die Fahrt bis Ingelheim unweit von Mainz, wo die Gruppe umsteigen muss, zieht sich hin. Der Zug hat Verspätung. Cécile Lecomte und Bobby würden sich gerne hinlegen. Das lange Sitzen bekommt beiden nicht gut. Sie haben dafür Isomatten dabei.

Ihre Forderung nach Liegewagen für Menschen, die nicht lange sitzen können, klingt illusorisch. In dem ohnehin vollen Zug ist daran auch nicht zu denken, sich hinzulegen. Zusätzlich zu den beiden Rollstühlen sind auch noch drei Kinderwagen an Bord. Alle stehen dicht an dicht. Obwohl die Toilette direkt an die Rollstuhlplätze angrenzt, wird das Manövrieren dorthin zum Abenteuer. Nach dreistündiger Fahrt erreicht die Gruppe dann Ingelheim. Die beiden Rollstuhlfahrer*innen legen sich am Bahnsteig erst mal auf den Boden und ruhen sich aus. Es ist genug Zeit, der Anschlusszug fährt erst in knapp einer Stunde.

Als die Regionalbahn einfährt, wird wieder ein Problem sichtbar. Am Fahrplan und an der digitalen Anzeige ist nicht zu erkennen, wo Rollstuhlfahrer*innen einsteigen können. Durchsagen dazu gibt es nicht. Doch die Gruppe hat Glück. Unweit ihres Standorts am Bahnsteig hält ein Wagen mit einem Fahrradabteil, das leer und geräumig ist. Mit einiger Unterstützung aus der Gruppe schaffen es die beiden Rollstuhlfahrer*innen in die Bahn. So viel Platz das Fahrradabteil auch bietet, von den Toiletten im Zug sind Gehbehinderte abgeschnitten. Dafür müssten Treppen überwunden und enge Gänge durchfahren werden. Für Menschen im Rollstuhl eine Zumutung. Auf bekannten Strecken habe man Erfahrungswerte und die Plätze für den Rollstuhl seien bekannt, erzählen Leute aus der Gruppe. Auf unbekannten Strecken sei das aber Glückssache. Am frühen Abend erreichen die Protestierenden dann Frankfurt. Insgesamt war es für sie eine angenehme Fahrt: Wenn nötig, gab es Unterstützung, niemand wurde angepöbelt oder irgendwo stehen gelassen.

Am nächsten Morgen findet der Protest am Bahnhof Frankfurt West statt. Zwei Kletter*innen, die laufen können, lassen oben von einem Zaun Seile herab, an denen sich die beiden Rollstuhlfahrer*innen hochziehen können. Bis zum Eintreffen der Polizei verläuft die Aktion problemlos. Die Beamten sperren das angrenzende Bahngleis. Es folgen Durchsagen der Bahn, dass es Störungen im Betriebsablauf gibt. Cécile Lecomte antwortet: »Für uns ist die Störung im Betriebsablauf der Normalzustand.« Auf Diskussionen mit der Polizei geht die Gruppe nicht ein. Sie sei es nicht, die für Verspätungen und Zugausfälle sorge, erklären sie, sondern die vielen Barrieren, die von der Bahn geschaffen würden. Herbeigerufene Höhenretter der Feuerwehr weigern sich, die Kletternden herunterzuholen. Das sei eine politische, polizeiliche Lage, sagen sie. Kein Notfall.

Gegen Mittag beenden die Aktivist*innen ihren Protest. Die Polizei nimmt Personalien auf, möglicherweise wird die Bahn Schadenersatzansprüche stellen. Darum kümmert sich der »Rollfende Widerstand« vorerst nicht. Für die Gruppe war die Kletteraktion erfolgreich: In den sozialen Medien gab es viele Unterstützungsbekundungen. Auch vor Ort war die Resonanz auf die Aktion überwiegend positiv; wie viele Barrieren es bei der Bahn gibt, das erschließt sich vielen Menschen schnell. Jetzt plant die Gruppe neue Aktionen, damit die vielen Hindernisse für Rollstuhlfahrer*innen endlich abgebaut werden.

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