Europa und das Brathähnchen

Das Manifest von Ventotene gilt als Geburtsurkunde eines föderalen und solidarischen Europas. Nun gibt es ein neues Papier

Altiero Spinelli als Abgeordneter im Europäischen Parlament
Altiero Spinelli als Abgeordneter im Europäischen Parlament

Im Magen eines gebratenen Huhnes sollen 1941 die Ideen des Antifaschisten Altiero Spinelli und seiner Mitstreiter aus dem Gefängnis geschmuggelt worden sein. Wenn am Wochenende ein neues Europa-Manifest auf Ventotene vorgestellt wird, dürften es die Politiker*innen mit der Öffentlichkeit deutlich leichter haben.

Die Geschichte hat das Zeug zu einem handfesten Thriller. Sie beginnt im Jahr 1941 auf Ventotene, einer Insel in der Bucht von Neapel, die seinerzeit kaum so malerisch war, wie es die heutige Tourismus-Infrastruktur vermuten lässt. Denn Ventotene war ein Verbannungsort im Mittelmeer; Partisanen, Antifaschisten, Regimegegner wurden von der faschistischen Mussolini-Regierung auf dem Eiland interniert. Mehrere Hundert Gefangene saßen dort ein, ohne Perspektive, die Insel in der Zeit der Diktatur wieder verlassen zu können.

Zu den Eingekerkerten gehörten die drei Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni. Ihr Weg zum Widerstand war sehr unterschiedlich. Während Spinelli bereits seit seiner Jugend der Kommunistischen Partei angehörte, war Colorni ein sozialreformerischer Philosoph, und Rossi hatte sich vom nationalistischen Redakteur eines Mussolini-Blattes zum Kriegsgegner gewandelt. Was sie verband, war die Idee eines neuen föderalen Europas, ohne Diktaturen, ohne Krieg.

Dazu, wie es zur verheerenden Situation in Europa kommen konnte, hatten sie eine klare Analyse: »Die uneingeschränkte Souveränität der Nationalstaaten hat sie zu Herrschaftsansprüchen geführt, da jeder sich von der Macht des anderen bedroht fühlt und immer größere Gebiete als den ihm zustehenden Lebensraum betrachtet.« Und auch dazu, wie diese Situation überwunden werden könnte: »Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht. Es gilt endgültig mit den wirtschaftlichen Autarchien, die das Rückgrat der totalitären Regime bilden, aufzuräumen. Es braucht einer ausreichenden Anzahl an Organen und Mitteln, um in den einzelnen Bundesstaaten die Beschlüsse, die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen, durchzuführen.« Mit solchen Formulierungen gilt das Manifest von Ventotene als Geburtsurkunde des modernen europäischen Föderalismus. Dass das Papier ausdrücklich ein sozialistisches Europa anstrebte, wird heute gern ausgeblendet.

Geschrieben wurde das Manifest mit dem Ruß von Streichhölzern auf Zigarettenpapier – zumindest davon hatten die drei Kettenraucher Spinelli, Colorni und Rossi genug. Glaubt man den Erzählungen, hat die Ehefrau von Eugenio Colorni die Kassiber aus dem Gefängnis geschmuggelt – im Bauch eines Brathähnchens, das sie ihrem Mann bei einem Besuch mitgebracht hatte, ihm aber nicht übergeben durfte.

Heute funktioniert das anders. Ideen werden nicht mehr per Brathähnchen in die Welt gebracht, sondern per Internet oder Fernsehen. Zumal Bilder immer wichtiger werden. Am Wochenende werden sich Aktivist*innen und Politiker*innen verschiedener Parteien auf Ventotene einfinden und den Medien stellen. Nicht weniger als ein neues Manifest von Ventotene wollen sie vorstellen.

»Über 80 Jahre nach der Urschrift und 65 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge als Gründungsdokumente der EU sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen völlig andere«, sagt Helmut Scholz, Linke-Europaabgeordneter und Mitglied der Spinelli Group, die die Neufassung des Manifests vorgelegt hat. Der Gruppe gehören Abgeordnete aus allen demokratischen Fraktionen des Europaparlaments, Politiker*innen, aber auch Wissenschaftler*innen und Vetreter*innen der Zivilgesellschaft an – darunter der frühere belgische Premier Guy Verhofstadt von den Liberalen und Sven Giegold, Grünen-Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. »Natürlich muss ein Papier, das auf so breiter politischer Basis entsteht, ein Kompromiss sein«, räumt Scholz ein. »Aber es ist ein Ansatz zum Nachdenken, wo Veränderungen notwendig und auch machbar sind.«

Es ist nicht das erste Mal, dass sich politische Gruppierungen auf das Manifest von Ventotene beziehen, um eigene Interessen zu pushen oder dem Integrationsprozess einen Impuls zu geben. Im August 2016 beschworen die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Premier Matteo Renzi auf der Insel den »Spirito di Ventotene«, um EU-Europa angesichts von Brexit und »Flüchtlingskrise« zusammenzuhalten. Bekanntlich mit wenig Erfolg, schaut man auf Staaten wie Ungarn, Polen oder Tschechien, die je nach eigenem Interesse gemeinsam vereinbarte europäische Werte aussetzen, umdeuten oder Entscheidungen blockieren.

Knapp drei Jahre später hat auch die deutsche Linkspartei das Manifest wiederbelebt. Kurz vor ihrem Bonner Europa-Parteitag im Februar 2019 hatte eine Gruppe um Gregor Gysi, damals Präsident des europaweiten Zusammenschlusses Partei der Europäischen Linken, den sozialistischen Charakter des Manifests zur Handlungslinie in Sachen EU erklärt – auch mit Blick auf die Tatsache, dass Teile der Linkspartei nicht nur der EU, sondern der europäischen Integration skeptisch gegenüberstehen. Zuvor hatten Abgeordnete der Linksfraktion im Europaparlament um die damalige Fraktionsvorsitzende Gabi Zimmer und die Tochter Spinellis, Barbarai, 2016 wichtige Akteure der europäischen Linken eingeladen, u.a. Luciana Castellina, Lubos Blaha und Etienne Balibar, das Manifest neu zu lesen und die europapolitische Debatte von links zu beleben. Gerade deshalb und trotz aller Diversität der Spinelli Group hält es Scholz für wichtig, dass die deutsche und europäische Linke auch an der aktuellen Ausarbeitung eines Ventotene-Manifests unter veränderten Rahmenbedingungen mitarbeiten: »In einer Zeit, in der in Europa wieder aufeinander geschossen wird, in der Sozialsysteme geschleift werden und nationale Egoismen wieder auferstehen, kann die Linke nicht abseits stehen, sondern muss die Ideen Spinellis verteidigen und in die heutige Zeit umsetzen.« Gerade auch, weil die Linke in solchen Bereichen wie der Außen- und Sicherheitspolitik oder beim Sozialen grundsätzlichere Akzente und Handlungsnotwendigkeiten sieht als Konservative oder Liberale. Und ebenso, weil sie wichtige Aspekte der Geschichte auf dem europäischen Kontinent seit Veröffentlichung des Manifests vielschichtiger bewertet, was transparent und öffentlich in der Gesellschaft zu diskutieren wäre.

Tatsächlich dürften einige Formulierungen gerade im Bereich der Außenpolitik bei Linken mehr als nur Stirnrunzeln hervorrufen. Kurzfristig müssten die EU und ihre Verbündeten dafür sorgen, »dass die russische Aggression (in der Ukraine) keinen Erfolg hat«. Die Fortsetzung der Militärhilfe für die Ukraine, einschließlich der Lieferung von Panzern und Kampfflugzeugen, sei »unerlässlich«. Unproblematischer sind da schon die Forderungen nach Fortschritten bei Klimapolitik und Umweltschutz, bei der Zusammenarbeit auf den Feldern Gesundheit, Migration, Soziales oder digitaler Wandel – was nach Auffassung der Verfasser*innen jeweils am besten rechtlich verbindlich und EU-weit über den supranationalen Weg zu erreichen ist.

Damit knüpft die Spinelli Group auch an die zweijährige EU-Zukunftskonferenz an, die im Mai mit der Übergabe der Schlussfolgerungen an die EU-Spitzen feierlich beendet wurde. Dabei hatten Tausende Bürgerinnen, aber auch Wissenschaftler*innen, Abgeordnete und Politiker*innen mehr Vergemeinschaftungen in den verschiedenen Politikbereichen und tatsächliche Reformen, bis hin zur Überarbeitung und auch Neufassung der Europäischen Verträge, gefordert. In einer Resolution hatte das EU-Parlament daraufhin mit überdeutlicher Mehrheit den Artikel 48 des Lissabon-Vertrages aktiviert und die Einsetzung eines Konvents gefordert, um jene Empfehlungen der Zukunftskonferenz, die Vertragsveränderungen erfordern, zu ermöglichen. Im Oktober soll der EU-Ratsgipfel, so die tschechische EU-Ratspräsidentschaft, seine Antwort auf die Entschließung des Europaparlaments geben. Die französische EU-Ratspräsidentschaft hatte sich trotz großer Worte des frisch wieder gewählten Präsidenten Macron weggeduckt. Dass Prag selbst nun einen großen Schritt wagt, darf jedoch bezweifelt werden. Schließlich gehört die tschechische Regierung zu jenen in Europa, die nationalstaatliche Interessen immer wieder über die der Gemeinschaft stellen. Und die deutsche Außenministerin Baerbock hatte auch bereits – trotz klarer Aussagen zur Zukunftskonferenz im Koalitionsvertrag – in einer schnellen Reaktion auf die Parlamentsposition die Konventsidee beiseite geschoben.

Altiero Spinelli übrigens, der nach dem Krieg wichtige Positionen im EU-Gefüge bekleidete, hat seine Ziele eines föderalen Europas und die demokratische Teilhabe der Menschen auf dem Kontinent an politischen Entscheidungen bis zu seinem Tod 1986 nie aufgegeben – auch wenn er immer wieder bei den Regierungen damit auf taube Ohren stieß.

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