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Habituelle Hallfahnen
Derzeit wird die kritische Auseinandersetzung mit Kapitalismus, Rassismus und Geschlechterverhältnis an Kunsthochschulen richtigerweise großgeschrieben. Die soziale Klasse der Studierenden spielt dabei allerdings kaum eine Rolle
Mich als Kind der Arbeiter*innenklasse zu verstehen, ist eine idealistische Selbsterzählung, die sich in der Realität nicht ganz einlösen lässt, weil sie sich nicht mit meinem früheren Selbstverständnis deckt. Vielleicht wäre es mir leichter gefallen, mich zu identifizieren, wäre ich unter Arbeiter*innen groß geworden, die aus ihren Lebensumständen eine kritische, politische Bewegung gemacht hätten. Doch das bin ich nicht, und so war ich geprägt von Bestrebungen, der eigenen Klasse nicht zugehörig sein zu wollen.
Vielen prekär lebenden Menschen, ob arbeitend oder arbeitslos, scheint das Korsett der traditionellen Klassenerzählung kaum mehr zu passen. Es bedarf ein anderes als ein rein vertikales Verständnis von Klasse, um die Schwerelosigkeit zu verstehen, in der sich beispielsweise junge Künstler*innen wie ich befinden, wenn sie in Zirkel vordringen, in denen die eigene Klassenherkunft völlig unterrepräsentiert ist.
Ich erinnere mich an den Atem meines Onkels, in dem sich Alkohol und Zigarettenqualm mit Menthol vermischten. Wenn ich ihn sah, dann oft in seiner Arbeitsuniform, bestehend aus einem roten Overall, über dem er einen Gewichthebergurt trug und Arbeitsstiefeln, deren Stahlkappen schon durch das abgewetzte Leder blitzten. Als mein Vater bereits einige Monate lang verschwunden war, angeblich, um im Süden Deutschlands als Drucker zu arbeiten, weil an Ruhr und Niederrhein die Arbeitsangebote ausblieben, strichen meine Mutter und ihre Schwester in einer entkernten Wohnung die Wände an. Ich spielte in einem der vielen leeren Räume und dachte, wir müssten ein weiteres Mal umziehen. Doch die beiden alleinerziehenden Mütter renovierten bei Leuten, die es für selbstverständlich hielten, dass andere die Raufaser für sie von den Wänden kratzten. In der Erinnerung empfinde ich neben Melancholie vor allem eine tiefe Verbundenheit zu unseren Müttern. Sie versuchten meinen Cousinen, meiner Schwester und mir, so gut sie konnten, den Schwerkräften des Prekariats und ihren eigenen Traumata zum Trotz, eine Zukunft zu ermöglichen. Wir sollten für uns und ganz frei entscheiden können, wer wir sein und was wir mit unseren Leben anfangen wollten.
Im Frühling bekam ich im Rahmen meines Studiums der freien Kunst die Zusage für die Begabtenförderung des größten Studienstipendiums Deutschlands. Vor einer fünfköpfigen Kommission, bestehend aus renommierten Künstler*innen, sprach ich über mein Heranwachsen in prekären Verhältnissen. Sowohl in Phasen der Arbeitslosigkeit meiner Eltern als auch während ihres sozialen Aufstiegs in Berufe mit besseren Bedingungen war und ist das Leben auch immer ein Überleben. Ein Überleben im Kapitalismus. Wenn meine Sprache derart deutlich ausfällt, meinen andere Künstler*innen oft, ich würde überdramatisieren. Im weltweiten Kapitalismus bekäme die Drastik meiner Selbsterzählung einen ignoranten Unterton angesichts des Schicksals der Arbeiter*innen im globalen Süden, denen es schließlich wesentlich schlechter erginge als Hartz-IV-Empfänger*innen hierzulande. Arme sollen sich in unserer Gesellschaft immer nach unten vergleichen – es gibt schließlich immer noch jemanden, dem es noch schlechter geht –, während Reiche sich vor allem in den Schatten noch reicherer Menschen stellen, um deutlich zu machen, dass sie so reich doch gar nicht seien.
Kunst, Musik, Film und Literatur ermöglichen identitätsstiftende Resonanzräume. Dort werden gewisse Ästhetiken, Rituale und habituelle Verhaltensweisen aufgeführt, die sich junge Künstler*innen aneignen im Abgleich miteinander und mit dem, was Generationen von Kunstschaffenden und Kritiker*innen vor ihnen taten. So bleibt zum Beispiel ein skrupelloser, ins Extrem getriebener Individualismus die Triebfeder des Erfolgs junger Künstler*innen schlechthin. Obwohl Begriffe wie community (Gemeinschaft) und collectivity (Kollektivität) längst Allgemeinplätze in Ausstellungstexten sind, ist von einem solidarischen Miteinander nichts zu spüren. Die Selbstvermarktung, die Selbstausbeutung zwischen andauernden Kunstevents und der eigenen Atelierpraxis, das Selbstverständnis als Künstler*in, all das knüpft direkt an die soziale Herkunft an. Wer mehrere Tage in der Woche einer Lohnarbeit nachgehen muss, um sich das Studium und Material für die nächste Ausstellung leisten zu können, hat zwangsläufig weniger Zeit für Vorlesungen, Atelier und soziales Gemenge. Wer hingegen niemals selbst Geld verdienen musste und in dem Wunsch, Künstler*in zu werden, schon im Kindesalter nachdrücklich unterstützt wurde, lebt heute vermutlich in einem Selbstverständnis, das sich kaum erschüttern lässt. Hinter verstaubten Vorstellungen von Talent und Genie, die noch immer gerne bemüht werden, bleiben die immensen monetären, (im-)materiellen Ressourcen eines Großteils vielbesprochener, junger Künstler*innen und Kurator*innen verborgen. Ihre Eltern und nicht selten schon ihre Großeltern sind oft nicht nur wohlhabend, sondern selbst Künstler*innen, Regisseur*innen und Schriftsteller*innen oder eng mit solchen vernetzt. Sie bilden einen Kunstadel, der Kontakte und Kapital unter seinesgleichen mit einem nahezu feudalen Selbstverständnis weitervererbt.
Politische Diskurse in der zeitgenössischen Kunst verlangen ihnen selten ein Klassenbewusstsein ab, indem sie sich und ihre eigene Herkunft hinsichtlich ihres (Einfluss-)Reichtums reflektieren müssten. Es reicht völlig aus, sich öffentlich mit gender und race auseinanderzusetzen, um sich moralisch-performativ auf die richtige Seite globaler Ungerechtigkeiten zu stellen. Zwar ist es möglich, in Deutschland ohne Hochschulzugangsberechtigung freie, künstlerische Studiengänge zu belegen, doch die Kunstakademien sind weit davon entfernt, klassenkonvergente Räume darzustellen. Wer kann es sich schon erlauben, einen künstlerischen Werdegang als Möglichkeit zu erachten? Dass Intersektionalität und Kapitalismuskritik in der Kunsttheorie inzwischen von großem Interesse sind, der Aspekt der Klasse im eigenen Feld dennoch derartig vernachlässigt wird, zeugt davon, dass existenzielle Erfahrungen von Armut den meisten jungen Kunstschaffenden völlig fremd sind.
Ironischerweise hat sich gerade in den Sphären der Kunst die oberste Schicht in ihrem Stil und Habitus so sehr am Ausdruck des Prekariats bedient, dass sich dort ästhetische und habituelle Trennlinien zwischen den Klassen aufzulösen scheinen. Ich begegne einer Sprache und Kleidungsstilen, Tätowierungen und Haarschnitten wieder, die Arbeiter*innen erfanden und kultivierten. Auf Laufstegen und Kunstmessen verkommt das, was oftmals aus der Not geboren wurde und worüber sich die Reichen hämisch amüsierten, zum Fetisch einer jungen Elite, die gelernt hat, jenen Arbeiter*innenhabitus für sich zu monetarisieren.
In der Oberfläche dieser Künstler*innen spiegelt sich meine prekäre Herkunft. Diese Spiegelung wird aber sogleich in den Details gebrochen, in den Geschichten über geerbten Wohnraum, die hinter vorgehaltener Hand erzählt werden, in den Designer-Turnschuhen, die ein Vielfaches von dem kosten, wofür meine Mutter bei den Eltern derjenigen putzen ging, die mir heute sagen, ich würde übertreiben, wenn ich behaupte, ich sei arm.
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