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Die neue große Erzählung
Bedürfnis und Interesse: Das Netzwerk »Richtige Literatur im Falschen« wird sieben Jahre alt
Der Politologe Ingar Solty und der Verfasser dieser Zeilen initiierten 2015 im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus ein Treffen, bei dem Autorinnen und Autoren mit Theoretikern und Theoretikerinnen zusammentrafen, um die Problematik engagierter Literatur in der heutigen Zeit zu debattieren. Der Titel der Veranstaltung war »Richtige Literatur im Falschen«, eine Kreation des heutigen Leiters des Literaturforums Christian Hippe. Analog zu Adornos bekanntem Bonmot aus den »Minima Moralia«, es gebe kein richtiges Leben im falschen, sollte also hier der Frage nachgegangen werden, ob unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen denn eine »richtige Literatur« gedeihen könne, die gleichzeitig ästhetisch anspruchsvoll und politisch ist, die Haltung zeigt, die Stellung bezieht.
Die damalige Tagung war ein großer Erfolg. Viel Publikum kam, die Medien berichteten lebhaft, und auch die Teilnehmer waren größtenteils angetan, wünschten sich eine Fortsetzung dieses Dialogformats. Mit von der Partie waren damals u. a. Norbert Niemann, Monika Rinck, Kathrin Röggla, Stefan Schmitzer, Michael Wildenhain, sie sind allesamt bis heute dabei. In den nächsten Jahren wurden weitere Tagungen veranstaltet, zu denen neue Akteure hinzustießen. Es entstand eine offene Form, eine Kultur des Zuhörens und des barrierefreien Miteinanders. Das Publikum war dazu aufgefordert, sich zu beteiligen, und machte davon rege Gebrauch.
Dabei entwickelte sich mehr und mehr ein stringenter Diskussionsprozess, die nächsten Treffen – in Berlin (2016), Graz (2017), Dortmund (2018), München (2019) und Fürth (2021) – bauten systematisch aufeinander auf. Nachvollziehen lässt sich das anhand dreier Dokumentationsbände, die 2016 bis 2021 erschienen sind, ein vierter ist aktuell in Vorbereitung. Ging es am Anfang auch und gerade um eine realistische Literatur, wurden in der Folge immer mehr die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick genommen, in denen solche ästhetischen Konzeptionen wirken können. Die (mögliche) Zukunft der Literatur und der Gesellschaft war ein Thema, auch Ökologie und ihr Verhältnis zur Literatur. Dann jedoch spitzte sich der Blickwinkel wieder zu auf die aktuelle Lage, in der Autorinnen und Autoren heute schreiben – nämlich die »neue Klassengesellschaft«.
Unsere Gesellschaft ist durchaus wieder von konkurrierenden Klassen geprägt, allerdings nicht mehr so klar und eindeutig vom traditionellen Gegensatz zwischen Proletariat und Kapital. Denn was wäre heute das Proletariat? Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft seit den 70er Jahren und die Diversifizierung der Arbeitswelt haben einen unübersichtlichen Arbeitsmarkt geschaffen. Eine »Arbeiterschaft«, eine Klasse wie zu früheren Zeiten, lässt sich nicht mehr zielgenau ermitteln.
Dennoch existiert eine große Schar prekär Beschäftigter, schlecht Entlohnter, eine Klasse von Lohn- und Honorarempfängern – und auch eine Schicht sehr wohlhabender Menschen, die von deren Arbeit profitieren. Die Tätigkeiten jener Minderprivilegierten sind sehr unterschiedlich. Prekarisierung betrifft alle sozialen Schichten; sie umfasst illegale Bauarbeiter und migrantische Putzkräfte ebenso wie die neuen »Techno-Sklaven« der IT-Branche oder Wissenschaftler mit Zeitverträgen. »Solo-Unternehmer«, deren Existenz während der Pandemie erstmals allgemein zur Kenntnis genommen wurde, gehören ebenso zum Prekariat wie »feste Freie« in Agenturen oder Redaktionen oder Selbstständige, die komplexe Dienstleistungen für große Unternehmen erbringen. Es existiert also eine Vielzahl von Abstufungen, die von einem subproletarischen bis zu einem hochqualifizierten Prekariat reichen. Dabei sind die Arbeitsbedingungen nicht nur in finanzieller Hinsicht völlig verschieden.
Wie kann Literatur darauf reagieren? Wie kann sie diese minderprivilegierte Schicht ansprechen, sie ermutigen, sie ermächtigen, ihre Lage zu verbessern – also Teil eines klassenpolitischen Kampfes werden? Das waren die Fragen, die beim aktuellen, dem siebten Treffen des Netzwerks »Richtige Literatur im Falschen« die Leitlinien bildeten. Man traf sich Mitte August im Haus Rüschhaus bei Münster. Dieser alte Adelssitz, in idyllischer Parklandschaft gelegen, war fast zwei Jahrzehnte Wohnsitz von Annette von Droste-Hülshoff. Ein Ausdruck von Klassenpolitik war auch das.
Die Runde im denkmalgeschützten kleinen Saal war intim, der Geist des Ortes tat sein Übriges, um Gespräche auf Augenhöhe zu ermöglichen. Hatte man drei Jahre zuvor in München noch – im Anschluss an das hundertste Jubiläum der Münchner Räterepublik – die »Literatur im politischen Kampf« studiert, teilweise mehr mit historischem Blickwinkel, galt es nun, praktische Perspektiven für ein gegenwärtiges Schreiben zu entwerfen, also Grundzüge eines klassenpolitischen Engagements in der Literatur zu skizzieren. Bedingung dafür ist nicht zuletzt die Konzeption einer »neuen Klassenpolitik« selbst, die den heutigen Anforderungen gesellschaftlicher Problemlagen gerecht wird. Ein nachhaltiges Thema war dementsprechend die Auseinandersetzung mit dem Intersektionalismus.
Die wissenschaftlichen Referentinnen und Referenten kritisierten reine Identitätspolitik aus marxistischer Sicht. Ingar Solty beschrieb, wie als Ergebnis einer poststrukturalistischen Konvergenztheorie, der angeblichen Angleichung der realsozialistischen und der kapitalistischen Marktwirtschaften während der 70er Jahre, die Arbeiterbewegung geschwächt wurde, Randgruppentheorien dagegen stärker wurden. In der Folge entstand der Gegensatz zwischen Neuer Linker und Arbeiterklasse, der bis heute nachwirkt. Auch die Berliner Politologin Bafta Sarbo stellte klar, dass die aktuellen, vom Neoliberalismus gefärbten intersektionalen Theorien das Ausbeutungsverhältnis auf Identität reduzieren. So aber könne weder eine Beschreibung dieser Relation gelingen noch entfalte sich dadurch ein politisches Bewusstsein, das sogar unabhängig von den realen Einstellungen der Menschen, die rassistisch oder reaktionär sein mögen, allein durch deren objektive Stellung im Produktionsprozess entstehe. Sie plädierte stattdessen für eine Dialektik zwischen Gleichheit und Differenz. Eleonora Roldán Mendívil kritisierte das »Erfahrungswissen« identitätspolitischer Argumentationen als eine »liberale Verdinglichung«.
Poetisch aktionistische Beiträge stammten von Luise Meier, Monika Rinck und Dagmar Leupold. Meier regte eine neue Komplizenschaft an, frei sich verbindende Allianzen im subversiven Bereich. Man solle sich fragen, was unser Bedürfnis ist und wie wir das jenseits der Lohnarbeit organisieren. Auch brachte sie eine kritische Reflexion ins Spiel, die im Tagungskontext vielfach wieder aufgegriffen wurde, nämlich dass man immer auch darauf achten müsse, wie man selbst in den waltenden Apparaten und Prozessen »verbaut« wäre. Rinck steuerte einen fluid-assoziativen Beitrag bei, wie sie selbst sagte: »eine Halde von unbeherrschtem Material«. Es drehte sich um Spuk, sein Auftreten an den Rändern der Existenz, schwebend, luzide, vielfältig verknüpfbar. Dagmar Leupold beschäftigte sich mit der spezifischen »Dissidenz« von Literatur, beschrieb, wie diese Spielräume eröffnen, widerständige Kassiber als literarische Konterbande einfließen lassen könne.
So schwer eine wirklich funktionierende neue Klassenpolitik momentan vorstellbar erscheint, ein Analysemodell, das die berechtigten Ansprüche minderprivilegierter Gruppen einspeist in eine große »gemeinsame Erzählung«, in Münster wehte bisweilen der Hauch einer Ahnung davon durch den Raum – eine Ahnung, wie das aussehen könnte oder müsste. Und vielleicht vermag sogar gerade Literatur, die ihr Zuhause im Uneindeutigen besitzt, hier eher etwas beizutragen als Theorie.
Ingar Solty/Enno Stahl (Hg.): Richtige Literatur im Falschen. Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik. Verbrecher Verlag, 300 S., br., 21 €.
Enno Stahl/Klaus Kock/Hanneliese Palm/Ingar Solty (Hg.): Literatur in der neuen Klassengesellschaft. Wilhelm Fink Verlag, 308 S., geb., 39,90 €.
Ingar Solty/Enno Stahl: Literatur im politischen Kampf. Verbrecher Verlag, 208 S., br., 22 €.
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